Süddeutsche Zeitung

Hilfe für Notleidende:"Wir müssen zuerst unsere alten Gäste versorgen"

Lesezeit: 4 min

Seitdem Woche für Woche neue Flüchtlingsfamilien aus der Ukraine ankommen, muss die Starnberger Tafel sogar Lebensmittel zukaufen. Doch selbst dann reichen die Vorräte nicht immer für alle Bedürftigen.

Von Sylvia Böhm-Haimerl, Starnberg

Yaryna-Sofiya Kupehak steht ziemlich verloren in der Warteschlange bei der Starnberger Tafel, die sich über den Hof der evangelischen Kirchengemeinde bis fast zur Straße zieht. Die 26-Jährige ist alleine hier. Ihre Mutter habe sie vor ein paar Tagen mit dem Auto aus der Ost-Ukraine hergebracht, weil sie schwanger sei, erzählt sie und zeigt auf ihren Bauch, der sich deutlich unter ihrer Jacke abzeichnet. Anschließend sei ihre Mutter wieder zurückgefahren zur Familie. Nun versucht Kupehak alleine zurechtzukommen in einem Land, das ihr fremd ist und dessen Sprache sie nicht spricht. Ihr Mann habe in den Krieg ziehen müssen, fügt die junge Frau hinzu und hält mühsam ihre Tränen zurück. Auch wenn sie versucht, ihr Schicksal tapfer zu ertragen, ist ihr deutlich anzusehen, das sie sich Sorgen macht, ob ihr Kind jemals seinen Vater kennenlernen wird.

Daria Bezpalko weiß ebenfalls nicht, ob sie ihren Ehemann und Vater ihrer Kinder wieder sehen wird. Beide Frauen wirken resigniert, stehen stoisch und schicksalsergeben in der Schlange. Bazpalkos Sohn indes wirkt unruhig und hektisch. Vielleicht hat er zu viel von den Schrecken des Krieges gesehen. Er rennt wie ein Tiger im Käfig immer wieder ein paar Schritte vor und zurück, vor und zurück.

Bezpalko ist am 28. März mit ihren 16 und 13 Jahre alten Kindern, ihrer Mutter und ihrer Katze am Starnberger See angekommen. "Mein Mann muss kämpfen", sagt sie. Es sei schon der zweite Krieg, vor dem sie fliehen müssten. Beim Krim-Krieg sei ihr Mann schwer verletzt worden. Dennoch habe man ihn nun erneut eingezogen. "Wenn meinem Mann etwas passiert, bin ich alleine." Trotz ihrer Sorge um die Angehörigen, die in einen Krieg ziehen müssen, den keiner von ihnen wollte, betont sie, wie um sich selbst zu beruhigen: "Es ist schwer, aber es muss so sein." Daher ist sie sichtlich erleichtert, dass sie als ausgebildete Krankenschwester sofort einen Job gefunden hat. Am 1. Mai kann die 34-Jährige im Tutzinger Krankenhaus anfangen.

"Es ist schon extrem, das haben wir so nicht erwartet", sagt Ardelt

So einen Ansturm wie an diesem Donnerstag hat die Starnberger Tafel noch nie erlebt. Zuletzt kamen laut der Tafel-Vorsitzenden Erika Ardelt pro Woche etwa zehn Flüchtlingsfamilien aus der Ukraine, um Lebensmittel abzuholen. Insgesamt versorgt die Tafel derzeit 32 Familien. An diesem Donnerstag aber kommen noch mindestens 18 Familien hinzu - und es werden immer mehr. "Es ist schon extrem, das haben wir so nicht erwartet", sagt Ardelt.

Nur langsam schiebt sich die Warteschlange vorwärts. Jeder Neuankömmling wird nach seinem derzeitigen Wohnort gefragt. Denn die Starnberger Tafel kann nur an die Bedürftigen der Kreisstadt Lebensmittel abgeben. Wohnen die Flüchtlinge in anderen Gemeinden, bekommen sie einen Zettel mit der Adresse der dortigen Tafel ausgehändigt und werden weitergeschickt. Wegen der Sprachschwierigkeiten dauert das seine Zeit. Als Bezpalko endlich registriert werden soll, erfährt sie, dass sie umsonst angestanden ist. Ihre Familie lebt in einer Unterkunft in Bernried, daher wird sie nach Tutzing weiter verwiesen. "Wir haben nicht so viele Lebensmittel", bedauert Ardelt. "Wir müssen zuerst unsere alten Gäste versorgen."

Seitdem Woche für Woche neue Flüchtlinge aus der Ukraine ankommen, müssen die Tafel-Verantwortlichen Lebensmittel zukaufen, damit es für alle reicht. Doch heute sind viel mehr Menschen als üblich gekommen. Tagelang haben die Ehrenamtlichen Lebensmittelspenden bei den Supermärkten gesammelt. Sie haben vormittags Obst und Gemüse geputzt sowie die Stände aufgebaut, an denen Kartoffeln, Brot, Mehl, Eier, Nudeln oder Smoothies aus dem Bioladen angeboten werden. Die Helfer teilen unter grünen Sonnenschirmen Lebensmittel aus, es sieht aus wie auf einem Markt. Das soll den Bedürftigen die Ängste nehmen.

Die Gäste, die schon einen Ausweis haben, werden am rot-weißen Absperrband durchgewunken, während die Neuankömmlinge registriert und anschließend gebeten werden, sich zu gedulden. Die ersten Lebensmittel könnten sie erst in einer Woche abholen, werden die sichtlich Enttäuschten vertröstet. So geht es auch einer älteren Starnbergerin. Mit ihrem Rollator bahnt sie sich mühsam einen Weg durch die Menschenansammlung. Man sieht ihr an, dass sie sich schämt, um Lebensmittel bitten zu müssen. Doch die Helferin kann keine Ausnahme machen und schlägt ihr daher vor, in ein paar Stunden wiederzukommen. Vielleicht sind noch Reste übrig, wenn die Marktstände wieder abgebaut werden. Die Seniorin blickt bedrückt zu Boden und wendet sich still ab. Es sieht nicht so aus, als ob sie sich ein zweites Mal überwinden könnte.

Damit Mutter und Kind nicht stundenlang in der Sonne stehen müssen, geht Bolz selbst nachsehen

Die Ukrainerin Vira Schrogl, die seit 18 Jahren in Deutschland lebt, hat sich ehrenamtlich als Übersetzerin zur Verfügung gestellt. Sie wird überall gebraucht, sollte am besten an mehreren Ständen gleichzeitig sein. "Ich spreche mit allen und erkläre alles. Wie viele es heute sind, weiß ich nicht", sagt sie. Die Tafel-Vorsitzende Ardelt versucht ebenfalls, den Überblick zu behalten, ist überall dort, wo Not am Mann ist oder Engpässe herrschen. Sie findet für jeden Gast freundliche Worte. Geduldig erklärt sie den Gästen auf Deutsch und Englisch, bei welcher Schlange sie anstehen müssen, um lange Wartezeiten zu vermeiden. Um Corona-Infektionen zu vermeiden, teilt Helfer Detlev Wagner Masken aus. Eine Mutter fragt nach Kindernahrung für ihr Baby. "Leider haben wir nicht mehr viel", sagt Helferin Christina Bolz. Damit Mutter und Kind nicht stundenlang in der Sonne stehen müssen, geht Bolz selbst nachsehen und bringt das wenige mit, das noch vorrätig ist. Man bemühe sich, das Chaos zu beherrschen, sagt Bolz.

Die meisten Leute drängen sich am Stand mit den Geschenketüten. Der Rotary-Club Starnberg hat Lebensmittel gespendet, die bei der Tafel normalerweise nicht zur Verfügung stehen, hochwertige Marken-Öle und Marmeladen, Schokoladen-Eier oder Kaffee. Wie Rotarier-Chef Mathias von Lukowicz berichtet, haben die Mitglieder am Vorabend 120 Tüten verpackt. Das Geschenk ist für die Gäste etwas Besonderes. Auch einen Stand mit Kinderkleidung und Spielsachen gibt es. Obwohl Sommerkleidung benötigt werde, weil die Flüchtlinge aus der Ukraine oft in dicken Fellstiefeln vor ihnen stünden, könnten sie derzeit nichts anbieten, sagt Helferin Barbara Wanske. Zunächst bräuchte die Tafel dringend Räumlichkeiten, um gespendete Kleidung lagern zu können. Auf einer Bierbank sind Blumensträuße arrangiert. Ein kleines Mädchen überlegt sorgfältig und sucht sich dann rote Tulpen aus. Freudestrahlend bringt sie diese zu ihrer Mutter und ruft: "Mama, ich habe für dich Blumen gekauft."

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