Süddeutsche Zeitung

Starnberger Sportarzt betreut Zehnkämpfer:Der Doktor des Goldmedaillengewinners

Lesezeit: 3 min

Sven Reuter hat die Zehnkämpfer um den neuen Weltmeister Niklas Kaul bei dessen Erfolg in Katar betreut. Er pflegt einen gewissen Aberglauben und muss manchmal gut zureden.

Von Carolin Fries, Starnberg

Plötzlich waren da die Magenprobleme beim Stabhochsprung, vollkommen unerwartet. Zehnkämpfer Niklas Kaul lag nach dem ersten Wettkampfabend bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Doha gut im Rennen, nun musste er ständig auf die Toilette - nicht gerade ideal, um die nötige Konzentration für die technisch anspruchsvolle Disziplin aufrecht zu halten. Jetzt war Teamarzt Sven Reuter gefragt. Einen Sprung über fünf Meter sollte Kaul noch probieren und damit die Grundlage für den späteren Titelgewinn schaffen. "Wenig trinken, maximal eine Banane essen", lautete die Ansage des Sportmediziners aus Starnberg. Kaul schwebte über die Stange - persönliche Bestleistung. Der Rest ist Geschichte.

Reuter, der in Starnberg mit drei Physiotherapeuten eine Praxis betreibt und als Professor für Therapiewissenschaften an der Hochschule für Gesundheit in Stuttgart lehrt, hat diese Goldmedaille ein Stück weit miterarbeitet, wenngleich er seinen Anteil als "sehr gering" bemisst. Der 39-Jährige steht seit acht Jahren an der Seite der Zehnkämpfer des Deutschen Leichtathletikverbandes. Er reist mit zu Qualifikationsturnieren, Trainingslagern und Wettkämpfen. Egal ob bei der WM in London 2017, der Europameisterschaft in Berlin im vergangenen Jahr oder in Doha: Zusammen mit Physiotherapeuten richtet er in den Katakomben der Stadien eine Art Basisstation für die Sportler, die zwar grundsätzlich kerngesunde, topfitte Menschen sind. Aber: "Alle, die auf so einem Niveau Zehnkampf machen, haben Probleme."

Mal zwickt die Wade oder die Oberschenkelmuskulatur macht zu, mal muss getapet werden, mal massiert und immer wieder gekühlt. Natürlich ist da auch eine menschliche Ebene, sodass Reuter genau weiß, wann aufmunternde Worte wichtig sind und wann "die Jungs" einen Moment der Ruhe brauchen. Die Umkleide ist den Sportlern ein Zufluchtsort, den sie im Idealfall gestärkt verlassen. "Kleinigkeiten machen es am Ende aus." Reuter weiß das.

In Doha kam eine besondere Herausforderung dazu, denn der Veranstalter hatte die zehn Disziplinen nicht wie üblich auf zwei volle Tage verteilt, sondern in zwei Abende gepackt. "Für Regeneration blieb kaum Zeit", erzählt Reuter. Es musste immer schnell gehen: Sprinten, Schuhe wechseln, Weitsprung, Materialwechsel, Kugelstoßen, Hochsprung - und nach Mitternacht noch 400 Meter laufen. "Für die Zuschauer ist das toll, für die Athleten extrem anstrengend", beschreibt der Arzt. Noch dazu bei hohen Temperaturen, wenngleich diese laut Reuter im klimatisierten Stadion gut auszuhalten gewesen seien.

Der Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie richtete sein Hauptaugenmerk angesichts der besonderen Umstände auf das Flüssigkeitsmanagement der drei Zehnkämpfer Niklas Kaul, Tim Nowak und Kai Kazmirek. "Man neigt unter diesen Bedingungen dazu, viel zu trinken. Viel wichtiger ist es aber, elektrolytreich zu trinken", sagt er.

Andernfalls könne es zu einer Wasservergiftung kommen. Das Problem beim Essen: "Eigentlich könnte der Körper nach jeder Hochleistung eine große Portion Nudeln vertragen, die kriegt aber natürlich keiner runter, zudem steht schon die nächste Disziplin an." Also: Riegel, Nüsse und Bananen im Stadion, leicht verdauliche Kost wie Reis im Hotel.

Woher die Magenprobleme von Kaul beim Stabhochsprung kamen? Womöglich waren sie psychosomatisch bedingt, denn beim Stabhochsprung fiel die Vorentscheidung für den Titelgewinn - "die Zehnkämpfer sind sehr gut im Punkte rechnen." Zugleich wissen alle, wie schnell Träume zerplatzen können. Gerade im Zehnkampf.

Das medizinische Team bleibt deshalb bei der ersten Disziplin, dem Sprint über 100 Meter, in den Katakomben. Und einer der Physiotherapeuten schaut auch den Hürdenlauf am zweiten Tag in der Umkleide. "Das ist unsere Tradition", sagt Reuter. Schlecht sei man damit bislang ja nicht gefahren. Beim Hürdenlauf und beim Stabhochsprung, den verletzungsanfälligsten Disziplinen wiederum, sei er stets in der ersten Reihe. In Doha stürzte Kai Kazmirek, glücklicherweise blieb er unverletzt. Der Wettkampf aber war für ihn gelaufen. Doch anstatt aufzugeben, hat er den Wettbewerb beendet, hat Niklas Kaul unterstützt. "Die Zehnkämpfer haben einen sehr starken Zusammenhalt."

Dann kam der Goldabend. Für Reuter war nach dem Speerwerfen klar, dass das deutsche Team mit einer Medaille belohnt würde - vorausgesetzt, Kaul würde im 1500-Meter-Lauf nicht stürzen. Da war auch bei ihm die Nervosität aufgekommen. Kaul stürzte nicht.

Nach der Dopingprobe ging es erst um 3.30 Uhr mit Medaille und Maskottchen zurück ins Hotel. Den strubbeligen Falken schenkte Kaul dem Arzt für dessen dreijährige Tochter Pauline. Damit dürften die Chancen auf den Titel bei Olympia 2020 in Tokio gestiegen sein. "Ich hab' ihr von allen großen Wettkämpfen ein Maskottchen mitgebracht - und immer haben wir beim nächsten Wettkampf was erreicht."

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Quelle:
SZ vom 09.10.2019
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