Süddeutsche Zeitung

Starnberg:Zum Lesen verdonnert

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Der Verein "Brücke" hilft straffälligen Jugendlichen mit unterschiedlichen Aufgaben - manchmal auch mit Lektüre.

Von Carolin Fries, Starnberg

Manchmal, wenn wieder ein junger Mensch vor ihm steht, der eine Straftat begangen hat, denkt sich Gerd Weger: "Ein Glück, dass sie ihn erwischt haben." Denn so bekomme er eine zweite Chance. "Ich sag' immer: Wir sind die Reparaturwerkstatt für Jugendliche." Damit meint der pensionierte Beamte den Starnberger Verein "Brücke", der sich seit 40 Jahren um junge Menschen kümmert, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind und womöglich am Anfang einer kriminellen Karriere stehen. Meist finden sie doch zurück in ein geregeltes Leben.

Die vier Sozialpädagogen des Starnberger Vereins haben sich im vergangenen Jahr 278 Jugendlichen und Heranwachsenden gewidmet, die insgesamt 308 Delikte begangen haben. Weger, Gründungsmitglied und seit 35 Jahren Vorsitzender, erklärt, dass es sich um eine kleine Gruppe am Rand der Gesellschaft handle. "Wir wollen diese auch gar nicht in den Mittelpunkt stellen", sagt er. "Doch man darf sie auch nicht außer Acht lassen."

Die 14- bis 21-Jährigen werden in der Regel über ein Gericht oder die Staatsanwaltschaft an die "Brücke" verwiesen, um Sozialstunden abzuleisten, Beratungsgespräche zu führen oder sich einer Suchtberatung zu unterziehen. Tatsächlich bekommen sie viel mehr: "Wir sehen uns in der Verpflichtung, den tatsächlichen Bedingungen der Jugendlichen und ihren Lebenswelten Rechnung zu tragen", heißt es im Jahresbericht. In der Praxis heißt das, dass die Pädagogen individuell auf die Persönlichkeit der Jugendlichen, ihre Probleme und die aktuelle Lebenssituation eingehen.

Dabei gelte es herauszufinden, wo die besonderen Fähigkeiten und Möglichkeiten der jeweiligen Person liegen - "denn die hat jeder", meint Weger. Aus dieser Gewissheit heraus ließen sich viel leichter Perspektiven entwickeln und Pläne schmieden. Im vergangenen Jahr ist der Anteil der straffällig gewordenen Mädchen von etwa 30 Prozent auf knapp 40 Prozent gestiegen. Während die Jungen mehrheitlich wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz an die "Brücke" verwiesen werden, haben die 87 betroffenen Mädchen überwiegend geklaut. Zudem wurden die Jugendlichen jünger straffällig: Die meisten Klienten begingen die Straftaten im Alter von 16 Jahren. Dabei spielte es kaum eine Rolle, welche Schule die Heranwachsenden besuchten; Mittelschüler und Gymnasiasten wurden nahezu gleich oft straffällig. Die meisten Fälle im Bereich der Jugendkriminalität gab es in den Gemeinden Gauting und Gilching sowie in der Stadt Starnberg. Die Bandbreite der Straftaten reicht von Bedrohung, Nötigung und Raub über unerlaubten Waffenbesitz bis zu vorsätzlicher Körperverletzung.

Die meisten Jugendlichen - im vergangenen Jahr insgesamt 149 - wurden für diese Vergehen von einem Gericht verurteilt, in 31 Fällen wurde das Verfahren gegen Auflagen ausgesetzt. Weitere 59 straffällig gewordene Jugendliche wurden über ein sogenanntes Diversionsverfahren an die "Brücke" verwiesen, um ein richterliches Verfahren abzuwenden oder weil eine zu leistende Geldbuße in Arbeitsstunden umgewandelt wurde. Insgesamt wurden 199 Jugendlichen Sozialstunden auferlegt, in der Summe 6694. Der größte Teil wurde im Seebad Starnberg abgearbeitet, auf den weiteren Plätzen folgen das Eltern-Kind-Programm in Stockdorf, das Jugendhaus "Stellwerk" in Herrsching und das Schullandheim Wartaweil. "Wir sind sehr froh, hier mit knapp 65 Institutionen zusammenarbeiten zu können", sagt Weger.

Nicht nur Strafe sei wichtig, sondern auch Vorbeugung gegen Wiederholungstaten, betont er. Deshalb finden parallel häufig Beratungsgespräche statt oder "Leseweisungen": das Lesen und Reflektieren eines ausgewählten Jugendbuches. Im vergangenen Jahr wurden dazu 29 Jugendliche verdonnert. Wer unregelmäßig oder gar nicht mehr in der Schule auftaucht, landet im Projekt "Update", um neue Perspektiven zu entwickeln. Wer gewalttätig wurde, kann versuchen, beim Täter-Opfer-Ausgleich in einem Mediationsverfahren eine Aussöhnung zu erreichen. Auch Naturschutzaktionen unternimmt die "Brücke" mit den Jugendlichen.

Weger bereiten die zunehmenden Weisungen der Gerichte Sorge, da sie seiner Ansicht nach belegen, dass bei den Jugendlichen "zu Hause viel im Argen liegt". Was er damit konkret meint? Fehlende Nestwärme. "Wer sich für ein Kind entscheidet, für den muss das dann auch Priorität haben", findet er. Eine Garantie dafür, dass sich das eigene Kind gut entwickelt, gebe es nicht. Doch nebenbei zu erziehen, das funktioniere eben nicht. "Jedes Kind will im Mittelpunkt stehen", ist Wegers Erfahrung. "Es will gesehen werden." Nichts schmerzt den 75 Jahre alten Starnberger mehr als ein junger Mensch, der sich wertlos fühlt.

Doch Weger will die Schuld nicht allein den Eltern geben. "Es ist für Jugendliche heute viel schwieriger", sagt er. Die Einflüsse und Verführungen hätten durch das Internet und die sozialen Medien stark zugenommen. Es sei für Jugendliche heutzutage einfacher und verlockender als früher, eine Straftat zu begehen.

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SZ vom 18.08.2020
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