Süddeutsche Zeitung

Ateliertage in Berg und Icking:Echte Türen, echte Menschen

Lesezeit: 3 min

Das Thema "Wahn und Wirklichkeit" liest sich wie ein Kommentar zur Corona-Pandemie, doch es entstand bereits vor einem Jahr. Nun wollen die Teilnehmer dazu beitragen, dass die Kunst lebendig bleibt.

Von Katja Sebald, Berg/Icking

Für die einen ist es der Rückzug ins Private, für die anderen bedeutet es Vereinsamung. Manch einer freut sich über die Reduktion auf das Wesentliche und ein anderer sieht die Bedrohung der eigenen Existenz. Und wieder eine andere teilt die Welt in ein "Vorher" und ein "Nachher". Natürlich geht es immer um Corona. Vor allem, wenn es um Kunst geht. "Wahn und Wirklichkeit" heißt das Thema der 34. Ateliertage in Berg und Icking - und man könnte meinen, dass die Künstlerinnen und Künstler, die an den kommenden beiden Wochenenden ihre Ateliertüren für Besucher öffnen, mit dieser Themenwahl ihre aktuelle Situation im Blick hatten. Aber weit gefehlt: Sie einigten sich bereits vor einem Jahr darauf.

"Dass sich dies als prophetische Entscheidung erweisen sollte, hat keiner von uns geahnt", schreibt die Malerin Juschi Bannaski in ihrer Einladung. Und Petra Jakob ergänzt: "Wir hoffen, mit unserer Veranstaltung einen Beitrag zu leisten, dass Kunst lebendig und nicht nur noch künstlich auf dem Bildschirm erlebbar bleibt." Es werden sich also echte Türen öffnen und es werden sich echte Menschen begegnen, um Kunst am Ort ihres Entstehens zu erleben - wenn auch mit Abstand, Mundschutz, Desinfektion und viel frischer Luft.

Renate Rahm stellt ihre Blumenbilder bei Lucie Plaschka in Aufkirchen aus.

Lucie Plaschka stellt ihren "Vironaut" auf. Im selben Haus ist auch Roman Wörndls Installation "Nächtliche Schatten" zu sehen.

Fotograf Andreas Huber stellt in seinem Studio in Aufhausen aus.

"Nächtliche Schatten" heißt eine Multimedia-Installation, die Roman Wörndl zum allgegenwärtigen Thema zeigt: Zu einer Videoaufnahme seines eigenen Kopfes und der leise gepfiffenen Melodie von "Die Gedanken sind frei" ertönen aus rund um den Kopf kreisenden kleinen Lautsprechern vielstimmig Lebensweisheiten, Plattitüden, Redewendungen, gute Ratschläge und Fragen von "Alles wird gut" über "Wer nicht hören will, muss fühlen" bis zu "Werden den Problemen Antworten folgen?". Diese höchst eindringliche Arbeit entstand in diesem Frühjahr, als das Leben wegen der Corona-Pandemie stillstand.

Für Juschi Bannaski bedeutete der Stillstand ebenfalls eine Zeit der Kreativität: Sie zeigt eine Vielzahl neuer Bilder, die meisten in Hinterglastechnik. Man könnte ihre tiefgründig leuchtenden Farbwelten als sehnsuchtsvolle Erinnerungen ebenso wie als Fluchtorte aus der Gegenwart oder als Zukunftsvisionen interpretieren. "Geht doch" heißt etwa eine dieser aktuellen Arbeiten, in der Menschen über weite Abstände hinweg miteinander kommunizieren: Ihr filigran gezeichnetes Miteinander wirkt respektvoll-freundlich, keineswegs verzweifelt, die helle und weite Leere des Bildraums erscheint als friedliche und luftige Welt der Zukunft, nicht als Ort von Ödnis und Einsamkeit.

Auch der Fotograf Andreas Huber hat auf seine Weise eine neue Ordnung für die Welt der Dinge geschaffen: Er zeigt eine Reihe von eindrucksvoll reduzierten Arbeiten, auf denen nichts als ein Glas Wasser oder ein Körbchen mit Brot auf einem mit einer weißen Leinendecke bedeckten Tisch zu sehen ist. Ein scheinbar aus dem Bildraum kommendes Licht wie in den Gemälden von Vermeer, vor allem aber die - freilich mit den Mitteln der Fotografie - geradezu "altmeisterlich" behandelte Textur des Tischtuchs macht den großen Reiz dieser Aufnahmen aus. Der Ausdruck auf Leinwand anstelle von Papier betont ihre gleichsam "malerische" Qualität noch zusätzlich.

Im Atelier von Lucie Plaschka treffen zwei sehr gegensätzliche Positionen aufeinander. Die Künstlerin selbst zeigt Arbeiten, die sich mit der Vereinzelung des Menschen und dem "Verstummen" der Welt beschäftigen, etwa einen lebensgroßen "Vironauten", der die Welt erobert, und eine Stadtansicht mit verschlossenen Häusern. Es gibt dort weder Fenster noch Türen, keine Kunst und vor allem keine Musik. Die Malerin Renate Rahm, die als Gast bei ihr ausstellt, zeigt dazu eine Art Gegenentwurf: Auf ihren großzügigen und farbstimmigen Papierarbeiten sind ausschließlich Blumen zu sehen, als einzelne Blüten, als Ausschnitt aus einem Gartenbeet oder als schön arrangierter Strauß.

Das "unbegreifliche Virus" bestimmt auch das Arbeiten von Petra Jakob. Es "bedroht die Gesundheit, dämpft die Lebensfreude aller Generationen, vernichtet Existenzen, ruiniert die Wirtschaft(en) und nimmt uns alle in Geiselhaft", sagt sie. In ihrem Atelierstübchen unter dem Dach zeigt sie deshalb "Wirklichkeit" und "Wahn" als Gegensätze: Ersteres ist die freundliche Welt vor Corona, bestehend aus einer Vielzahl von kleinen Aquarellen, in der sich Menschen in alltäglichen Szenen begegnen. Letzteres ist eine Reihe von Montagen und Zeichnungen, mit denen die Künstlerin das aktuelle Geschehen kommentiert.

Die beiden Atelierhäuschen im Garten von Gabriel Baumüller aber erscheinen wie Inseln in dieser Welt der Wirrnisse. In dem einen gibt der Bildhauer einen Einblick in seine aktuelle Arbeit an einem Brunnenprojekt, im anderen hat er eine wundersam feine Gedächtnisausstellung für seine im vergangenen Jahr verstorbene Frau Sophia Hößle eingerichtet. Die Malerin Isabelle Roth zeigt dazu eine kleine Auswahl ihrer Arbeiten, darunter ein sehr poetisches Bild mit dem Titel "Fliegen".

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Quelle:
SZ vom 02.10.2020
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