Süddeutsche Zeitung

Wilhelm-Busch-Realschule:"Ich rieche Müll mit abgelaufenem Essen. Naja, das Leben ist hart"

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Von Melanie Staudinger

"Jeden Tag, wenn ich zur Schule fahre, sehe ich bunte Häuser, höre ich fröhlich zwitschernde Vögel, rieche ich frisch gemähte Wiesen und schmecke meine Aufstehspucke. Jeden Schultag dasselbe." Mit diesen Worten beschreibt Amir seinen Weg zur Schule, sein Viertel, die Trabantenstadt Neuperlach am Rande Münchens. Mitschüler Ennan sieht den Stadtteil so: "Autos fahren hin und her. Zigaretten liegen am Boden, die Wände sind neu und weiß. Die Miete ist hoch, aber auch egal. Hunde laufen durch den Park, Bäume stehen am Park. Häuser sind neu und teuer." Und Yagmur wünscht sich für seine Traumstadt: "Es gibt keine Drogendealer, die uns Angst machen."

In acht Doppelstunden hat sich die Klasse 6a der Wilhelm-Busch-Realschule mit dem Dichten beschäftigt und ihre Ergebnisse bei einem Lyrikabend im Kulturhaus Neuperlach vorgestellt. Im Projekt "Lust auf Lyrik: Neue Lyrikperlen aus Neuperlach" kamen die Profis, die Lyrikerin Ann-Kathrin Ast sowie der Kabarettist Alex Burkhard, in die Schule und bewiesen den Jugendlichen, dass Lyrik nicht nur Auswendiglernen und Gedichtinterpretation ist.

"Wir wollen den Jugendlichen die Berührungsangst vor der Lyrik nehmen", sagt Pia-Elisabeth Leuschner von der Stiftung Lyrik Kabinett, die das Programm an Schulen anbietet und nicht nur mit der Wilhelm-Busch-Realschule zusammenarbeitet, sondern zum Beispiel auch mit dem Werner-von-Siemens-Gymnasium.

In den Workshops merken die Schüler, dass der Gedichte-Kosmos zwar auch aus Goethe, Brentano oder Heinrich Heine besteht, deshalb aber nicht angestaubt sein muss, was zum Beispiel die steigende Beliebtheit von Dichterwettstreiten, den Poetry Slams, zeigt. "Die Schüler haben nicht nur Sprache kennengelernt, sondern auch viel über sich selbst erfahren", sagt Ast. Sie schrieben über Neuperlach, wo sie wohnen. Sie fantasierten sich ihre Traumstadt zusammen (am besten ohne Zigaretten, dafür gerne mit Schulpflicht und Kaufhäusern mit günstigen Klamotten). Sie dachten über Angst, Wut und Freude nach.

Jimmy brachte das zu Papier: "Manchmal habe ich Angst. Wenn ich Angst habe, bin ich hektisch wie ein Mensch, der am Arsch ist. Angst. Sie macht mich kaputt. Für mich ist sie wie Frösche, wenn ich sie sehe. Sie schmeckt nach vergammelten Eiern. Und sie riecht wie zwanzig Jahre altes Parfüm. Aber vor allem kann ich sie fühlen. Sie fühlt sich an wie Müll. Und auch ein Aussehen hat sie. Für mich sieht sie aus wie ein sterbender Mensch. Angst ist, wenn ich nicht mehr kann, sie ist wie der Teufel."

Die Schule schafft Freiräume für das Projekt

Die Schüler probierten sich in experimenteller Lyrik aus: "Am Himmel zischt es, summend die Bienen, ganz vor singt das Chromosom und der Monde zuckt, nur kein Wechselstrom." (Julian) Und sie übersetzten Nonsens-Gedichte aus dem Norwegischen, ohne die Sprache jemals gelernt zu haben. Eine Selbstverständlichkeit ist das Projekt so nicht. "Das geht nur, wenn man eine Schule wie die Wilhelm-Busch-Realschule hat", sagt Holger Pils, Geschäftsführer des Lyrik Kabinetts.

Denn die Schulleitung müsse das Projekt mittragen, die Lehrer müssten Freiraum schaffen. "Wir wählen meist unsere Ganztagsklassen aus", sagt Direktorin Brigitte Preiß. Sie bräuchten mehr Abwechslung im Unterricht. "Und wir wollen den Horizont der Schüler erweitern", erklärt Preiß. Die Kinder sollen in der Schule machen, was sie privat nicht tun. So skeptisch manche anfangs sind: Bisher hat niemand den Auftritt mit seinem Gedicht verweigert.

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SZ vom 27.07.2017
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