Süddeutsche Zeitung

Serienstart:Stadt der Zukunft

Lesezeit: 3 min

München boomt - und doch fühlen sich viele dabei unwohl. Alles wird immer teurer und voller, der Druck auf jeden wächst. Eine neue SZ-Serie stellt Ideen vor, wie die Metropole lebenswert bleiben könnte

Von Kassian Stroh

Haben wir doch alles schon gehabt: Alle drei Jahre legt die Schweizer Beraterfirma Prognos ihren "Zukunftsatlas" vor, eine Studie darüber, wie gut gerüstet alle deutschen Landkreise und Städte für die Zukunft sind. Als es im Mai wieder so weit war, da stellte sich ein Déjà-vu-Erlebnis ein: Wieder belegten Stadt und Landkreis München die beiden vordersten Plätze, wie in allen anderen vier Auflagen zuvor. Und dass Prognos heuer erstmals auch den digitalen Wandel analysiert hat, änderte nichts am Befund: Auch hier liegt München vorn - "mit einer 5-Sterne-Plus-Wertung". Elektrisiert hat dies die Stadtgesellschaft nicht, sie kennt solche Nachrichten ja zuhauf.

Nein, Zukunftsängste plagen die Münchner im Großen und Ganzen nicht. Es gäbe auch keinen Grund dafür. Die Stadt mitsamt ihrem Umland prosperiert, während viele andere Regionen der Republik ausbluten. Ihr geht es wirtschaftlich hervorragend, ohne von einzelnen Branchen oder gar Firmen abhängig zu sein, sie ist attraktiv zum Leben. Die Schönheit der Landschaft drumherum wird bleiben, auch wenn sich neuerdings vier Windräder am Starnberger See ins Alpenpanorama geschmuggelt haben. Das unüberschaubare kulturelle Angebot wird weiter fantastisch sein, auch wenn ein Berliner in T-Shirts die Kammerspiele zur Spontikammer umfunktioniert und Lieblinge des Publikums wie Brigitte Hobmeier vergrault.

Grund zur Angst gibt es nicht. Im Verborgenen aber schlummert ein Unwohlsein, ein latentes Unbehagen der Münchner darüber, wohin es geht mit ihrer Stadt. Es ist ein diffuses Gefühl, das zu einzelnen Anlässen immer mal wieder an die Oberfläche tritt. Bei Protesten etwa gegen den Abriss der alten Kneipe "Schwabinger 7", gegen den Bau der Glockenbachsuiten oder von Apartmentblocks in den "Gartenstadt" genannten Einfamilienhaus-Vierteln. Dieses Gefühl wird regelmäßig zur machtlosen Wut im morgendlichen Stau auf dem Mittleren Ring oder auf dem kalten Bahnsteig, wenn keine S-Bahn kommt. Es entzündet sich an Projekten wie der Wand von Perlach, die für die einen ein Schallschutz gegen den Bolzplatz eines Flüchtlingsheims ist, für die anderen eine Abschottung gegen Asylsuchende - und wechselseitig bezeichnen sich beide Seiten als Fremdenfeinde und "Bahnhofsklatscher".

Freilich gibt es solche Konflikte auch in anderen Städten. Ein Kennzeichen Münchens aber ist der Druck, unter dem hier alles steht. Der im Großen natürlich, der Siedlungsdruck, der Verkehrsdruck, der Nutzungsdruck auf Freiflächen und Natur. Aber auch der im Kleinen, ganz Alltäglichen - gerade für diejenigen, die nicht zu den kinderlosen Gutverdienern zählen: Reicht das Geld zum Leben noch? Kriegen wir einen Platz in der Krippe, und kriegen wir ihn dann auch zum 1. September? Schaffen wir es, die Eingewöhnung dort in drei Wochen durchzuziehen, weil länger kann ich im Büro nicht fehlen?

Die ach so münchnerische Gelassenheit und Gemütlichkeit? Wird als Mythos beschworen, auch von den Münchnern selbst, die sie im Alltag gar nicht mehr kennen. Alles ist auf Kante genäht in dieser Stadt, im Großen wie im Kleinen. Da darf nichts schiefgehen, weil noch die geringste Störung alles ins Wanken bringen kann: das defekte Triebfahrzeug im Stammstrecken-Tunnel ebenso wie der Fieberschub der Tochter.

Nicht alles davon kann die Politik beheben oder heilen, aber sie müsste versuchen, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass der Druck ab-, zumindest nicht zunimmt. Und das heißt auch: In dieser Stadt muss sich viel ändern, damit sie ihr Gutes nicht verliert, ihre Kraft des sozialen Ausgleichs und zivilisierten Miteinanders. Dass sie nicht zu einer Stadt wohlhabender Akademiker wird, in der alle anderen in die Mietsblöcke an der Peripherie abgedrängt worden sind. Das erfordert von Politikern mutige Entscheidungen. Mutig deshalb, weil sie unangenehme Wahrheiten nicht ignorieren und Erwartungen zwangsläufig enttäuschen: Die der Hausbesitzer beispielsweise, die einen freien Blick gekauft, nun aber ein Obdachlosenheim vor dem Garten stehen haben; die der Autofahrer, wenn ihre Ampeln zugunsten der Tram geschaltet werden; die der Gartenstadt-Bewohner, die plötzlich mehrgeschossige Häuser in der Nachbarschaft bekommen. Dieser Mut ist zu selten zu spüren in München. Ideen gäbe es ja, auch kreative, ungewöhnliche Vorschläge, wie München sich wappnen kann für die Zukunft. Und Menschen, die jetzt schon umtreibt, was künftig wichtig wird für die Stadt - bei Themen wie Wohnen und Verkehr, Kultur und Klima.

Ihnen widmet sich in den kommenden zwei Wochen die Süddeutsche Zeitung in einer Serie "Stadt der Zukunft - Wie sich München nach vorne denkt". Sie will einige dieser Menschen und Ideen vorstellen und sie will zeigen, wie sich unser Leben ändert, unsere Art zu wohnen, zu arbeiten, Freizeit zu verbringen. Denn mag München in Studien auch noch so sehr gerühmt werden als zukunftsfest - ein Freibrief für Untätigkeit ist das nicht. Sonst bekäme am Ende Karl Valentin recht, einer der münchnerischsten Münchner, äußerlich durch nichts zu erschüttern, tatsächlich ein nervöser, hypochondrischer Typ. Von ihm stammt die fatalistische Feststellung: "Früher war die Zukunft auch besser."

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Quelle:
SZ vom 12.11.2016
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