Süddeutsche Zeitung

Sendling:Heißkalte Beziehung

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In diesen Tagen beginnen die Arbeiten zum Anschluss des Heizkraftwerks Süd an das Münchner Fernkältenetz. Diese Art der Kühlung verbraucht rund 70 Prozent weniger Strom als konventionelle Klimaanlagen

Von Birgit Lotze, Sendling

Erst die Wärme, jetzt auch die Fernkälte. Das Heizkraftwerk (HKW) Süd, welches gerade zur größten Geothermieanlage Deutschlands ausgebaut wird, wird für den Anschluss an das Münchner Fernkältenetz vorbereitet. In dieser Woche beginnen die Arbeiten zur Verlegung der Rohrleitungen. Denn die Wärme, die auf dem HKW-Gelände aus Geothermie und aus Kraft-Wärme-Kopplung gewonnen wird, soll auch zur Erzeugung von Fernkälte genutzt werden. Von Ende nächsten Jahres an soll die erzeugte Kälte von der Schäftlarnstraße in Sendling durch Rohre unter der Lagerhausstraße, unter der Isarvorstadt und Ludwigsvorstadt in die Innenstadt strömen. Die Stadtwerke München (SWM) wollen dafür 80 Millionen Euro investieren. Helge-Uve Braun, technischer Geschäftsführer der SWM, spricht davon, dass die Fernkälte im Sommer der Hitzeglocke über der Innenstadt entgegenwirke - und damit der Gesamterwärmung Münchens. Für die Erzeugung von Fernkälte würden vor allem erneuerbare Energien genutzt. "Dadurch sinkt die Kohlendioxidbelastung deutlich."

Die Vorarbeiten laufen bereits. In der Schwanthalerstraße ist schon eine Einbahnregelung eingerichtet, im Mai beginnen die Bauarbeiten in der Herzog-Heinrich-Straße und am Kaiser-Ludwig-Platz, von Juni an werden die Rohre in der Thalkirchner Straße verlegt. Das Münchner Kältenetz ist derzeit zwölf Kilometer lang, bis Ende 2021 sollen es vier bis fünf Kilometer mehr werden. SWM-Geschäftsführer Florian Bieberbach sagt: "Je schneller wir mit unserem Fernkältenetz die Stadt erschließen, desto besser." Schließlich gehe es auch darum, klimaneutral zu werden. Der Bedarf an Kühlung nehme zu. Gerade in Zeiten, in denen es immer heißer wird, die Innenstädte zunehmend aufheizen, solle nicht jeder seine eigene Klimaanlage anlegen - Stromfresser, die dann noch Wärme nach außen abgeben.

Drei Kältezentralen gibt es bislang in der Innenstadt. Die Sendlinger Kälteerzeugungsanlage, angebunden über das Rohrsystem, soll bei Weitem die größte werden. Die derzeit größte arbeitet tief unterm Stachus. Über das Fernkältenetz in der Innenstadt werden aktuell fast 70 Gebäude versorgt: Hotels, Bürokomplexe und Warenhäuser, Rechenzentren, eine Großdruckerei, berichtet SWM-Pressesprecher Michael Solić. Für etwa noch mal so viele Objekte lägen bei der Stadt Anfragen vor, teils seien diese Projekte bereits in Planung. Die Klimatisierung im Einzelhandel und in der Gastronomie über die Fernkälte gehöre, genauso wie in Büros und auch in Wohngebäuden, zunehmend zur Grundausstattung, sagt Solić. "Gegenüber konventionellen Hausklimaanlagen braucht Fernkälte gut 70 Prozent weniger Strom."

Der Kreislauf der Fernkälte funktioniert ähnlich dem der Fernwärme: Wasser wird zentral abgekühlt und über eine Rohrleitung in die Hauswände der Kunden geleitet. Danach nimmt es die Abwärme aus der Gebäudeklimatisierung auf. Durch eine zweite, parallel verlaufende Leitung läuft das Wasser wieder zur Kälteerzeugungsanlage zurück, wird wieder abgekühlt und den Verbrauchern wieder zur Verfügung gestellt. Eine Kältezentrale ist anpassungsfähig: Je nach Außentemperaturen wird die Kälte direkt aus Fließgewässern über einen davon abgetrennten Wasserkreislauf gewonnen, so fast immer im Winter, oder indirekt mittels Kältemaschinen erzeugt. Die Abwärme wird danach in ein Fließgewässer oder in die Umgebungsluft abgegeben. Die Klimazentrale am Stachus, sie liegt in einem tiefen Stockwerk des unterirdischen Stachus-Bauwerks, dort, wo sich auch die U- und S-Bahnhöfe befinden, funktioniert über die Kombination von technisch erzeugter Kälte, also mittels Strom und Eisspeicher, und erneuerbar erzeugter. Sie zapft den unterirdisch fließenden Westlichen Stadtgrabenbach an. Für den Betrieb der neuen Fernkälteanlage am HKW-Süd soll geothermische Energie einbezogen werden. "Das ist eine Premiere", sagt Michael Solić. Die Abwärme soll über den Isar-Werkskanal rückgeführt werden, alternativ könne sie über die Kühlturmanlage geleitet werden.

Dabei ist das Fernkältesystem, bei dem Bäche und Isar genutzt werden, nicht unumstritten. Im Westlichen Stadtgrabenbach läuft das Wasser etwa sechs Grad wärmer zurück aus den Gebäuden - auch in die Münchner Gewässer. Wie wird gesichert, dass die Erwärmung keine ökologischen Schäden anrichtet? Der Hydrologe Kai Zosseder von der Technischen Universität hat vergangenen Sommer die Temperatur gemessen, im Englischen Garten, wo der Westliche Stadtgrabenbach an der Oberfläche weiterfließt. In der Regel sei der Einfluss gering, weil nicht viel Wasser entnommen werde, sagt er. Zosseder will deshalb keine Entwarnung geben: Würden mehr Gebäude angeschlossen, könnte dies Folgen für das Ökosystem haben. "Das Augenmerk muss in erster Linie darauf liegen, den Kühlbedarf von Gebäuden und Industrie möglichst gering zu halten."

Neben der neuen Erzeugungsanlage am Heizkraftwerk Süd sei momentan keine weitere Kälteerzeugungsanlage in Planung, sagt SWM-Pressesprecher Solić. Klar, das ganze Kältenetz werde kontinuierlich etwas erweitert. "Fertig wird das Netz im Prinzip nie." Doch die Größe des Sendlinger Kühlzentrums sei so geplant, dass sie das prognostizierte Kundenpotenzial der kommenden Jahre problemlos abdecken könne. Die Fernkältezentrale im HKW-Süd solle Kühlenergie von 36 Megawatt erzeugen. Das entspricht etwa dem Kühlungsbedarf von 100 Bürogebäuden.

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Quelle:
SZ vom 20.04.2020
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