Süddeutsche Zeitung

Wiesn-Standkonzert:Marsch, Marsch

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Der Himmel über der Bavaria ist vorschriftsmäßig blau, als das Standkonzert auf dem Oktoberfest beginnt. Mit dabei: Hunderte Musiker, Tausende Zuhörer und eine Welt-Uraufführung.

Von Stephan Handel

Natürlich, Hunderte Musiker auf den Stufen, natürlich, Tausende Besucher bis weit hinter zum Esperantoplatz, und natürlich steigt am Ende wie seit Anbeginn der Zeit ein bunter Luftballonschwarm am Haupt der Bavaria vorbei in den vorschriftsmäßig blauen Himmel - aber das Wiesn-Standkonzert am mittleren Sonntag war heuer, bei allem Festhalten am Traditionellen, doch ein bisschen anders als sonst.

Der Defiliermarsch zum Beispiel, sonst immer der Abschluss des Konzerts vor dem Bayernlied, erklang dieses Mal gleich zu Beginn. Das hatte einen Grund: Wolfgang Grünbauer, Kapellmeister im Festzelt Tradition, hat einen "Münchner Oktoberfest-Marsch" komponiert und das Stück dem im April dieses Jahres gestorbenen Hermann Memmel gewidmet, dem langjährigen Wiesn-Stadtrat. Die Zuhörer erlebten also eine Welt-Uraufführung, und auch für Oberbürgermeister Dieter Reiter am Dirigentenstab dürfte das etwas Neues gewesen sein: einen Marsch zu dirigieren, den er kaum gehört hat, auch wenn ihm die Musiker noch kurzfristig eine Aufnahme zur Verfügung gestellt haben.

Clemens Baumgärtner

Für Clemens Baumgärtner, den neuen Wirtschaftsreferenten und Wiesnchef der Stadt, war es der erste Auftritt als Ehrendirigent beim Standkonzert, und dann musste er auch noch gleich nach Otto Schwarzfischer ran, dem Routinier und Profi-Kapellmeister. Wie die meisten anderen Laien-Maestri machte Baumgärtner den Fehler, die sogenannte "Locke" mitzudirigieren, eine Art Schlagzeug-Einleitung, die den Musikern anzeigt, wann's losgeht. Als dann der Kaiserjäger-Marsch anhob, beschränkte Baumgärtner sich darauf, den Dirigentenstab von links nach rechts zu schwenken, nicht von oben nach unten, wie es eigentlich gehört. An der musikalischen Ausgestaltung, für die die linke Hand zuständig wäre, ließe sich auch noch arbeiten. Aber immerhin: Marsch unfallfrei zu Ende gebracht.

Stephanie Kuffler

Es besteht der Verdacht, dass die Wirtin aus dem Weinzelt fachkundige Anleitung eingeholt hat - Stephanie Kuffler dirigiert die Locke nicht, sondern benutzt sie nur dezent, um das Tempo aufzunehmen. Den Bozner Bergsteigermarsch leitet sie beidhändig weit ausholend, was absolut angemessen ist, denn bis zu den Tubisten oben auf der Treppe sind es gewiss 80 Meter, und die müssen sie ja auch sehen. Den Zeigefinger der linken Hand hat sie ausgestreckt, was ihrem Dirigat eine leicht drohende Note verleiht. Und wenn sie denn einen Lehrer hatte, dann hat der - fehlende Kompetenz? - ihr offensichtlich nicht beigebracht, dass die Eins im Takt immer nach unten geht, die Zwei nach oben. Bei Kuffler ist's fast durchgehend andersrum. Erst im Trio verhaspelt sie sich, und weil alles Schlechte auch was Gutes hat, passt's ab da.

Thomas Böhle

Wäre das Standkonzert eine Dirigierprüfung - Kreisverwaltungsreferent Thomas Böhle wäre schon nach den ersten Takten des Laridah-Marsches durchgefallen: Er hält den Dirigentenstab in der linken Hand, und das macht niemand. Sogar der weltberühmte Daniel Barenboim dirigiert, obwohl Linkshänder, mit rechts. Musikalisch ist die Performance ebenfalls ausbaufähig, Böhle, etwas steif in den Schultern, schlägt der Musik immer ein bisschen hinterher, und wenn er's merkt, gelingt ihm die Anpassung ans Tempo der Kapelle nur kurz. An der Show jedoch gibt es nichts zu meckern: Böhle bespielt das ganze Rund, Musiker, Honoratioren, Publikum und zurück, und als der Marsch im zweiten Teil richtig zu swingen anfängt, da swingt er mit. Hat zwar dann eher etwas von einer Animation als von einem Dirigat - aber wenn's klappt ...

Günter Steinberg

Günter Steinberg ist heuer 80 Jahre alt geworden, aber der Hofbräu-Wirt steht stramm und gerade vor den Musikern wie ein Königlich Bayerischer Regimentskapellmeister. So dirigiert er auch: Die linke Hand hängt an der Hosennaht und trägt zur musikalischen Formung gar nichts bei, der Taktstock in der rechten geht straff rauf und runter. Gespielt wird "Alte Kameraden" - so ein Marsch kann lang werden, auch wenn, wohl mit Rücksicht auf die Sendezeit, die eine oder andere Wiederholung weggelassen wird. Irgendwann beginnt Steinberg, nun doch auch mit der linken Hand Einsätze zu geben - wem, zu welchem Zweck und an welcher Stelle ist nicht immer klar. Die rechte Hand hingegen geht dazu über, mit der Spitze des Stabes Kreise zu beschreiben - aber das macht nichts, das hat der späte Karajan auch nicht anders gemacht.

Otto Seidl

Der Wiesnstadtrat Otto Seidl legt nicht nur insgesamt das größte Engagement aller Ehrendirigenten an den Tag, er weiß, dass während der Locke die Arme unten bleiben, mehr noch: Er gibt den Musikern sogar an der richtigen Stelle das Zeichen, die Instrumente hochzunehmen. Dann allerdings erwischt er den Beginn des Tölzer Schützenmarsches nicht so richtig; auch er dirigiert die Eins nach oben. Weil er das aber mit vollem Einsatz tut, schaut es manchmal ein bisschen komisch aus, wenn er mit großer Geste einen Auftakt gibt, wo gar keiner ist. Am Ende legt er alle Konzentration auf den letzten Abschlag - dabei vergessend, dass das Trio ja noch mal wiederholt wird. Aber Seidl fasst sich schnell wieder, und als dann wirklich Schluss ist, erwischt er den letzten Ton perfekt mit der Kapelle. Oder sie mit ihm, wie auch immer.

Sabine Schulz-Hammerl

Ist das so ein Frauen-Ding? Sabine Schulz-Hammerl, Chefin des Abfallwirtschafts-Betriebs, streckt wie Stephanie Kuffler den linken Zeigefinger aus, als würde sie dem Taktstock nicht trauen und zur Vorsicht einen zweiten, angewachsenen benutzen. Auch ihr widerfährt das Missgeschick, gegen den Takt zu dirigieren, mit der Eins nach oben, und auch sie verliert im Trio des Von-der-Tann-Marsches einmal die Orientierung, was sie aber wundersamer Weise wieder aufs richtige Gleis bringt. Schulz-Hammerl sieht die ganze Zeit so aus, als müsste sie sich gegen den Lachanfall des Jahres wehren, was zumindest ausgesprochen fröhlich rüberkommt. Und am Ende erwischt sie den Abschlag mit der Kapelle perfekt wie kein Dirigent vor ihr - allerdings schaut sie so drein, als wäre sie überrascht, dass es schon aus ist. Texte: Stephan Handel

Den Auftakt der Ehrendirigenten machte einer, der's kann: Otto Schwarzfischer, mittlerweile 80 Jahre alt, 1956 zum ersten Mal im Schottenhamel dabei in der Kapelle seines Großvaters, die im kommenden Jahr 70 Jahre auf der Wiesn begehen kann - mehr als genug Anlässe, den hochverdienten und hochgeehrten Wiesn-Maestro auf die Bühne zu holen; er erledigte seine Aufgabe, den Deutschmeister-Regimentsmarsch zu leiten, selbstverständlich mit Bravour.

Neben den Musikern der Zeltkapellen, die sich auf der Treppe zur Bavaria aufgestellt hatten, spielten und tanzten die Jugendtanzgruppe des Gebirgstrachten-Erhaltungsverein Surtal Lauter aus der Nähe von Traunstein, die Alphornbläser aus Oy, Jagdhörner aus Miesbach und der Volkssänger Winfried Frey. Mathias Achatz, der sonst mit seiner Kapelle die Ochsenbraterei beschallt, hatte sich selbst eine schwere Aufgabe auferlegt: Er spielte Auszüge aus dem "Karneval von Venedig", ein berühmtes und über die Maßen schweres Bravourstück - da wäre mancher Trompeter froh, wenn er es überhaupt mal hinkriegen würde, Achatz brillierte trotz sengender Sonne und einer Woche Bierzeltmusik in den Lippen.

Dass Sabine Schulz-Hammerl nach einigem juristischen Hickhack seit Kurzem nun doch Leiterin des Münchner Abfallwirtschaftsbetriebs ist, wäre allein wahrscheinlich noch kein Anlass gewesen, sie zum Dirigieren einzuladen - aber die Wiesn-Wirte überreichten ihr und mehr noch ihren Mitarbeitern von der Müllentsorgung ihren Sonderpreis in Gestalt einer Miniatur-Bavaria. Die orangenen Westen der vier zur Preisübergabe angetretenen Müllwerker korrespondierten aufs hübscheste mit der Dirndlschürze ihrer Chefin, die eine erstaunliche Zahl bekannt gab: Jeder Wiesnbesucher verursacht am Ende tatsächlich nur 180 Gramm nicht-recyclbaren Müll.

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Quelle:
SZ vom 30.09.2019
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