Süddeutsche Zeitung

Null Acht Neun:Durchhalten wie ein Alpaka

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So fühlt sich das Leben in München gerade an: Man wagt etwas Optimismus - und kriegt direkt wieder einen auf den Deckel

Glosse von Christiane Lutz

Diese Woche wurden einige Münchner Plätze frisch bepflanzt. Große Männer in Orange rückten an und setzten winzige Stiefmütterchen in die frische Erde. Ein rührendes Schauspiel war das, neues Leben, Frühling, Hoffnung. Aber nur, damit diese Minuten später wieder vom Schneeregen hinweggespült wurde. Die Menschen, die vor den Restaurants fleißig Schanigärten neu vernagelten, wissen nicht, ob da in absehbarer Zeit jemand sitzen wird. So fühlt sich das Leben in München gerade an: Man wagt etwas Optimismus - und kriegt direkt wieder einen auf den Deckel. Die spontane Entscheidung, mal bei dem kleinen Design-Geschäft vorbei zu schauen, jetzt, in den 90 Sekunden, in denen es geöffnet hat, bevor es, sind wir ehrlich, bald wieder schließen muss, entpuppt sich als schlechte Idee. Kein Termin? Sorry, dann geht nix, da wartet schon wer. Und die ersehnte Auszeit vom Ausnahmezustand auf Mallorca an Ostern, die wir alle so dringend nötig haben, kann sich jetzt doch nicht ernsthaft jemand guten Gewissens nehmen.

Nicht einmal mehr das Fernsehen bietet noch Eskapismus. So war auch der "Bachelor" dieses Jahr eine große Enttäuschung. Jener Single-Mann, der im Privatfernsehen vor laufenden Kameras unter 22 Frauen die einzig wahre Liebe findet. Normalerweise findet er sie bei Delfinschwimmen und Kokosnuss-Weitwurf an atemberaubenden Stränden in der Karibik, diesmal musste er sie beim Alpaka-Spaziergang in Oberbayern und vor Olchinger Wandtattoos erkennen. Für das Corona-müde Auge war das eine Zumutung, schließlich hockt man seit Monaten selber in Oberbayern herum (leider ohne Alpakas) und starrt auf die immergleichen Wände, die man inzwischen so verachtet wie Wandtattoos. Dass das Finale der Sendung in nordrhein-westfälischen City-Hotels und illuminierten Romantik-Scheunen stattfand, machte die Sache auch nicht besser.

Es ist der Tiefpunkt des Tiefpunkts erreicht. Die Puste ist aus nach einem Jahr Home-Office, während dem man 19 von 20 Pflanzen beim Eingehen zuschauen musste und nur diese eine prächtiger denn je sprießt, die optisch gewisse Ähnlichkeit mit Coronaviren hat. Zufall? Nein, es gibt nichts mehr zu beschönigen, der Frühling ist noch sehr fern.

Hilft nur noch, sich zu erinnern, dass da draußen irgendwo ein Alpaka lebt, das mit dem Bachelor spazieren gehen musste und das jetzt auch tapfer weitermacht mit seinem Leben.

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Quelle:
SZ vom 20.03.2021
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