Süddeutsche Zeitung

Attacke in Neuhausen:Aggressiver Dalmatiner beißt Kind Stück des Ohrs ab

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Der Hund hat bereits mehrfach Kinder verletzt - und der Halterin war untersagt, das Tier unter Alkoholeinfluss auszuführen. Beim Prozess um die erneute Attacke schildert die Mutter des Opfers eindrücklich den Vorfall.

Von Patrik Stäbler

Der Junge trägt an diesem Vormittag im Gericht einen Ganzkörperanzug - samt Kapuze, die er sich über den Kopf zieht, ehe er den Saal betritt. Dort soll der heute Sechsjährige als Zeuge unter Ausschluss der Öffentlichkeit berichten, was sich am 17. September 2021 in Neuhausen zugetragen hat. An jenem Abend also, an dem ihn ein Dalmatiner auf dem Gehweg angegriffen und einen Teil seines Ohrs abgebissen hat.

Gegen die damalige Hundehalterin hat das Amtsgericht München einen Strafbefehl wegen fahrlässiger Körperverletzung erlassen, gegen den die 58-Jährige jedoch Einspruch erhob. Folglich kam es zur Verhandlung, in der die Aussagen der Zeugen und Sachverständigen jedoch eindeutig für eine Schuld der Frau sprachen. Sie beschloss daher nach der Beweisaufnahme, ihren Einspruch zurückzunehmen. Bedeutet: Sie ist nun rechtskräftig zu einer Bewährungsstrafe von acht Monaten verurteilt. Zudem muss die Frau 10 000 Euro Schadensersatz an das Kind und 5000 Euro an eine gemeinnützige Einrichtung zahlen.

Was zuvor in der siebenstündigen Verhandlung geschildert worden ist, dürfte für viele Eltern kleiner Kinder zu den schlimmsten Vorstellungen überhaupt gehören. Auf dem Heimweg vom Einkaufen sei ihr damals vierjähriger Sohn mit dem Fahrrad auf dem Gehweg gestürzt, erzählt die Mutter in ihrer Zeugenaussage vor Gericht. Nachdem sie den Kleinen getröstet hatte, habe sie sein Rad aufheben wollen, als der Dalmatiner - er stand bis dahin angeleint im angrenzenden Grünstreifen - plötzlich auf das Kind losgegangen sei.

"Er war total aggressiv, hat stark an der Leine gezogen, die Zähne gefletscht und wollte weiter angreifen", berichtet die Mutter. Und ihr völlig verängstigter Sohn habe geschrien: "Ich wollte mich nur hinsetzen, und dann hat der Hund mich gefressen." Als sie den Vierjährigen daraufhin untersuchte, habe sie das viele Blut an seinem Kopf bemerkt. Und: "dass ein Stück vom Ohr fehlt".

Eine komplett andere Version der Ereignisse beschreibt dagegen die Angeklagte - eine Medizinerin aus München, die den Schilderungen des Staatsanwalts zuvor regungslos und mit gesenktem Blick zugehört hat. Die Frau auf der Anklagebank macht einen mitgenommenen Eindruck, hat dunkle Ringe um die Augen und ein eingefallenes Gesicht.

Vor ihrer Aussage, die sie gestützt von einem Gedächtnisprotokoll vorträgt, holt sie erst einmal tief Luft. Dann erzählt die Ärztin, dass der Bub an jenem Septemberabend schreiend auf ihren "Dalmi" zugelaufen sei, worauf der angeleinte Hund zwar nach dem Kind geschnappt habe, "aber er hat es nicht berührt". Die Verletzung des Buben, so legt die 58-Jährige nahe, könnte vielmehr von dem Fahrradsturz herrühren. Ganz anders sieht das dagegen die Sachverständige, die später in ihrem Vortrag betont: "Das ist absolut eindeutig eine Verletzung durch einen Hundebiss."

Auch abseits der Fahrradsturz-Theorie können die teils widersprüchlichen Angaben der Angeklagten die Vorsitzende Richterin nicht überzeugen. "Ihre Aussage ist für mich nicht hundertprozentig nachvollziehbar", moniert sie schon im Laufe der Verhandlung.

Dalmatiner hat bereits häufiger aggressives Verhalten gezeigt

Dazu kommt die Vorgeschichte der Frau - und ihres Hundes. Denn "Dalmi" ist bereits in den Jahren vor dem Vorfall auffällig geworden, hat dabei laut Staatsanwaltschaft "besonders gegen Kinder ein aggressives Verhalten gezeigt" und diese auch mehrfach erheblich verletzt. Erst zwei Monate vor dem Angriff auf den Vierjährigen war die Medizinerin vom Landgericht München I wegen fahrlässiger Körperverletzung von zwei Kindern zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen verurteilt worden.

Zudem war ihr nach einer Reihe von Vorfällen im März 2021 von der Stadt München untersagt worden, ihren Hund unter Alkoholeinfluss auszuführen. An dem betreffenden Septemberabend habe sie vor dem Gassigehen zwei kleine Gläser Weißwein getrunken, berichtet die Frau - eine Aussage, die der Staatsanwalt jedoch anzweifelt. Denn: Ihr Atemalkoholtest nach dem Vorfall ergab einen Wert von mehr als 2,0 Promille.

Unterdessen brachte ein Rettungswagen den damals Vierjährigen nach der Attacke umgehend ins Krankenhaus, wo ihm der abgebissene Teil seines Ohrs - eine Passantin hatte es zuvor inmitten von Laub am Boden gefunden - bei einer zweistündigen Notoperation wieder angenäht wurde.

In der Folge habe sein Körper das Ohrteil jedoch abgestoßen, erzählt die Mutter im Gericht mit brüchiger Stimme. "Stück für Stück hat der Arzt es deshalb abgenommen." Der Junge, dessen Familie inzwischen nicht mehr in München lebt, musste infolge des Vorfalls für längere Zeit in therapeutische Behandlung. Wie es ihm heute gehe, wollte die Richterin wissen. "Er trägt lange Haare, die das Ohr verdecken", antwortet die Mutter. "Und er möchte nicht, dass jemand das Ohr sieht."

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