Süddeutsche Zeitung

Neue Heimat:Wie man in Deutschland der Zeit ein Schnippchen schlägt

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In München rast jeder von einem Termin zum nächsten. Und nun raubt die Zeitumstellung auch noch eine Stunde - ein Konzept, das unser Autor aus seiner Heimat Nigeria nicht kennt.

Kolumne von Olaleye Akintola

Es heißt, dass Zeit Geld sei. Präziser ist jedoch der Vergleich mit einem Hamsterrad, weil man noch so schnell rennen kann und doch nie gewinnt. Schließlich hat noch nie jemand das Rennen gegen die Zeit gewonnen, keinem gelang es je, die Zeit mit einem Seil festzuschnüren - wie es ein nigerianisches Sprichwort heraufbeschwört. Doch wie man es auch dreht und wendet: Die Zeit bleibt nur dann stehen, wenn die Wanduhr aufhört zu ticken. Sobald man neue Batterien einsetzt, holt einen die Zeit aber sogleich wieder ein.

Der Uhrzeiger ist ein gnadenloses Instrument, dass einem immer wieder wie eine Nadel ins Gewissen piekst. Der Unterschied von München zu Nigeria: Dort spürte ich die Nadel eher selten, hier fühlt es sich nun an, als wäre ich ein ganzes Nadelkissen. In München regiert die Zeit in den Köpfen, nicht andersherum. Egal, ob bei beruflichen Terminen oder privaten Verabredungen, die Münchner Uhr lässt einem keinen Spielraum. Das ist manchmal ganz schön anstrengend - bei all den Unwägbarkeiten, die das Leben so mit sich bringt. Vielleicht stellen sie deshalb zwei Mal im Jahr die Zeit um - damit nur für einen kurzen Moment mal der Mensch über die Zeit regiert.

Wo ich herkomme, da gibt es keine Zeitumstellung. Wer sich jedoch in die Zone der Greenwich Mean Time wagt, der muss nicht nur die Uhr umstellen, sondern auch sich selbst. Am Sonntag ist es nun wieder soweit: Hier in München, wo die Zeit ohnehin in der Geschwindigkeit eines Hurricanes rast, rauben wir uns eine Stunde auf der Uhr. Ausgerechnet hier, wo die Menschen ohnehin stets in Eile sind. Ich tue mich schwer damit, dass ich jetzt wieder Energie vergeuden muss. Fast fühle ich mich wie ein Instrument zur Unterhaltung von Wissenschaftlern, die sich mit der Rotation der Erdachse beschäftigen.

Wieso braucht es diese befremdliche und frustrierende Praxis in meiner neuen Heimat? Dass man dadurch Strom spart, so lautet ein vielbemühtes Argument. Überzeugt hat es mich nicht. Wie in aller Welt kann es sein, dass man eine Handvoll vermeintlich Mächtiger in dem Glauben lässt, sie könnten die Zeit eigenhändig beeinflussen? Aber gut, offenbar gibt es in Deutschland nichts, was es nicht gibt.

Wahrscheinlich würde man hier sogar einen Katzenkopf in ein Reagenzglas hineinbringen, ohne dass das Gefäß zerbricht. Und so kam es, wie es kommen musste: Bei meiner ersten Zeitumstellung in Bayern habe ich prompt einen Termin beim Doktor verpasst. So ist das, wenn man neu hier ist und keinen kennt. Wenn man dann noch dazu kein Deutsch versteht, ist die pieksende Erinnerungsnadel lang und scharf wie ein Schwert.

Interessant ist, dass nicht nur Neuankömmlinge mit der Zeitumstellung zu kämpfen haben. Ich habe schon so viele Einheimische erlebt, die völlig hilflos am Bahnsteig standen, während ihr Zug seit einer Stunde unterwegs ist. Dieses Mal haben mich meine neuen bayerischen Freunde frühzeitig auf die Umstellung vorbereitet. Das ist gut so, ist doch neben der Zeit auch die Veränderung eine der wenigen Konstanten des Lebens.

Übersetzung aus dem Englischen: Korbinian Eisenberger

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SZ vom 23.03.2018
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