Süddeutsche Zeitung

Neue Gesprächsreihe:Toleranz schmerzhaft gelernt

Lesezeit: 3 min

Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck spricht im Residenztheater darüber, was man in einer ausfransenden Gesellschaft aushalten muss. Dabei geht es auch um die Lage in Thüringen - und die Perspektiven von Ministerpräsident Markus Söder

Von René Hofmann

Am Ende sagt Joachim Gauck so freundlich wie bestimmt nein: "Es ist lieb, dass Sie an mich denken, aber für mich ist schon gesorgt." Die Frage von Wolfgang Krach, dem Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung war, ob es angesichts der politischen Lage in Thüringen dort aktuell als Ministerpräsidenten nicht einen wie Gauck brauche - jemand überparteilichen, der von allen Seiten akzeptiert wird.

Als "konservativer, mitunter sozialdemokratischer und gelegentlich auch grüner Liberaler" erfülle er, Gauck, das Profil doch sofort. Als solchen hatte Frank-Walter Steinmeier, der zwölfte Bundespräsident, seinen Vorgänger in dieser Woche anlässlich des 80. Geburtstages bezeichnet. Gauck nutzt die Vorlage für ein finales Kompliment: "Ja, das ist so", sagt er, lässt den Blick über die vollen Reihen des Münchner Residenztheaters schweifen und fügt an, "und in diesem Raum, in dieser Stadt und in diesem Land gibt es viele Menschen, die genauso gestrickt sind."

Mehr als 600 Zuhörer sind an diesem Donnerstagabend zusammengekommen, zur ersten Veranstaltung unter dem Motto "München redet", einer Kooperation von SZ und Residenztheater. Entsprechend laut fällt der Applaus nach zwei Stunden aus. Gut gelaunt nimmt Gauck die Neugierigen mit auf einen anekdotenreichen Streifzug durch ein Thema, das er anlässlich einer Vorlesung einst für sich entdeckte und zu dem er im vergangenen Jahr auch ein Buch herausgebracht hat: Toleranz. "Was muss man aushalten? Toleranz in einer ausfransenden Gesellschaft", so ist der Auftritt überschrieben.

60 Minuten lang schildert Gauck, der in Rostock geboren wurde und zu DDR-Zeiten evangelisch-lutherischer Pastor war, ehe er über das Neue Forum in die Politik fand, seine Sozialisation zu einem toleranten Menschen: "Es gibt die Geschwister: Ich bin der älteste, drei kommen danach. Es ist für mich völlig klar, dass sie tun müssen, was ich denke und will. Das sehen die aber anders. Und schon geht es los: Wie soll ich nun mit diesem anders-Denken umgehen?" Und Gauck erzählt von dem Moment, in dem ihm bewusst wurde, wie anstrengend Toleranz mitunter sein kann: Als er in die konstituierende Sitzung der ersten frei gewählte Volkskammer der DDR kam und dort einen großen Block einstiger SED-Funktionäre sitzen sah: "Ich dachte, das ist ja schrecklich, die wollten wir doch los werden. Rote Reaktionäre - was machen die denn hier? Mein Bauch war total dagegen, aber dann meldete sich mein Kopf und sagte: Nun mal halblang. Die sitzen aus dem gleichen Gründen hier wie du, sie sind gewählt worden." Für Gauck eine prägende Erfahrung, die er zu dem Satz verdichtet: "Toleranz kann manchmal auch das Aushalten einer Zumutung sein."

Goethe, Adorno, Horkheimer, Marcuse: Es ist eine Reise durch viele Gedankenwelten, die im zweiten, gleichlangen Frageteil einen spannenden Kontrast findet. In dem geht es fast ausschließlich um die politische Gegenwart. Mit Blick auf die Lage in Thüringen mahnt Gauck die Parteien, den Wählerwillen ernst zu nehmen: "In dieser Situation hat der Souverän, das Volk, diese Konstellation geschaffen. Und deshalb gibt es eine Verpflichtung, aus dieser Konstellation was zu machen und nicht ohne weiteres gleich den Neuwahlknopf zu drücken." Die Lage in dem Land, in dem die rot-rot-grüne Regierung bei den Wahlen im Oktober 2019 ihre Mehrheit verlor, bewegt Gauck - weshalb er selbst einiges in Bewegung setzte. Mit dem Ziel, eine Regierungsfähigkeit herzustellen und so einem weiteren Verdruss über das politische System entgegenzuwirken, habe er Bodo Ramelow (Die Linke) und den Mike Mohring, damals noch Thüringens CDU-Partei- und Fraktionschef, im Januar zu einem Abendessen zusammengebracht.

Dass aus dem Aufeinander-zu-Bewegen nicht mehr wurde, bedauert Gauck und deutet auch an, woran das seiner Meinung nach lag - nicht an der Bundeskanzlerin oder der CDU-Vorsitzenden: "Ich denke, ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass Angela Merkel und Annegret Kramp-Karrenbauer eine moderate Form von Duldung mitgetragen hätten", sagt der Alt-Bundespräsident auf der Bühne des Residenztheaters. Eine Regierung, die sich auf die Stimmen der AfD stützt, wie sie am 5. Februar in Thüringen bei der Wahl von Thomas Kemmerich (FDP) für kurze Zeit zustande kam, überschreitet die Grenzen von Gaucks Toleranz: "Ich würde selber in der Situation des FDP-Fraktionschefs natürlich gesagt haben: ,Ich nehme die Wahl nicht an.'"

Auch wenn Gauck es vermeidet, das Kürzel direkt auszusprechen: Die AfD ist ein häufig wiederkehrendes Element in den zwei Stunden. Auf den Umgang mit ihr laufen viele Fragen zu, auch die, welchen Weg die CDU nach dem angekündigten Rückzug von Annegret Kramp-Karrenbauer als Parteichefin einschlagen sollte. "Es ist total wichtig, dass die Union erkennt, dass sie ein Angebot machen muss für diejenigen, die abgedriftet sind nach rechts außen", glaubt Gauck. Wer dafür stehen könnte? Auf diese Frage gehen sogar dem Eloquenten für einen Moment die Worte aus. "Wir sehen nicht alles, was im Werden ist", entgegnet Gauck dann und fügt an: "Es wird sehr interessant sein, was mit dem Bayernland passiert." Dessen Ministerpräsidenten Markus Söder, 53, habe eine bemerkenswerte Entwicklung genommen und bei dieser ein bemerkenswertes Selbstbewusstsein demonstriert: "Alle möglichen Entwicklungswege stehen ihm bei seinem Alter offen", so Gauck.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4798739
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 15.02.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.