Süddeutsche Zeitung

Münchner Fußballgeschichte:Als die Löwen besser als die Bayern waren

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Von Gerhard Fischer

Die Vergangenheit sollte ein Sprungbrett sein, nicht ein Sofa. Diesen schönen Satz hat der britische Ex-Premier Harold Macmillan einmal gesagt. Er regierte von 1957 bis 1963. Als der TSV 1860 München im Jahr 1965 in London spielte, hatte sich Macmillan also schon in den Ruhestand verabschiedet, er saß sozusagen auf dem Sofa. 1860 verlor das Europapokal-Finale gegen West Ham United 0:2 - natürlich bloß deshalb, weil West Ham quasi ein Heimspiel hatte, weil der Schiedsrichter bezahlt war, weil die Sonne den Löwen-Torwart geblendet hatte, weil der Ball schlecht aufgepumpt war und weil der FCB, der DFB, die Fifa und Ikea eine Verschwörung angezettelt hatten.

Spaß beiseite: Es geht um die Bewertung von Vergangenheit, um Sprungbretter und Sofas. Für den TSV 1860 war diese schmerzhafte Niederlage zunächst ein Sprungbrett in die neue Saison, an deren Ende der Verein Meister wurde. Ja: Meister! Für den FC Bayern war diese Saison 1965/66 die erste in der Bundesliga. Die Bayern waren gerade aufgestiegen.

Ein spannendes Jahr für München

Es muss also aus Münchner Sicht ein spannendes Jahr gewesen sein, und so verwundert es nicht, dass sich Philipp-Stephan Schneider intensiv damit befasst. Nur wie er sich damit beschäftigt, ist kurios: Er twittert die Saison 1965/66 aus Löwen- und Bayern-Sicht, als würde sie jetzt, im Moment, heute stattfinden. Man kann das bei Twitter einsehen unter Loewenhistory oder Bayernhistory.

Schneider kommt aus Essen und lebt heute in Wien. Er hat das mit dem Bundesliga-History-Twittern schon einmal mit Borussia Mönchengladbach gemacht, mit der Saison 1964/65. Schneider hat vom 21-jährigen Netzer geschrieben und vom guten, alten Trainer Weisweiler, der längst tot ist. Für ein Jahr waren sie noch einmal jung und gut und lebendig.

Jetzt sind die Bayern und die Löwen dran. Bei Schneider sind sie gerade in der Vorbereitung für die Saison 1965/66, wir sind ja tatsächlich im Juli, also in der Vorbereitungszeit. Man liest auf Twitter, dass sich der FCB mit Dieter Danzberg aus Duisburg verstärkt hat. "Er bringt Bundesliga-Erfahrung mit und soll dem unerfahrenen Franz Beckenbauer auf seiner Position ordentlich Dampf machen." Das ist ein Fakt, trocken, informativ.

Erst Landei, dann Weltmeister

Natürlich nutzt Schneider auch das Wissen der Gegenwart, etwa um die Vergangenheit lustig zu gestalten - für ihn ist die Gegenwart das Sprungbrett in die Vergangenheit. Einmal schreibt er vermeintlich süffisant: "Ja, genau, und der Gerd Müller schießt das DFB-Team eines Tages zum WM-Titel. Ganz bestimmt." Der Gerd Müller von 1965 war ein Landei aus Nördlingen, schüchtern, kurze Beine, unerhört dicke Oberschenkel. Niemand dachte, er würde einmal Deutschlands bester Mittelstürmer werden. Und niemand dachte, er würde das DFB-Team 1974 tatsächlich zum WM-Titel schießen.

Es ist auch drollig, dass die spätere Lichtgestalt, der Kaiser, der Firlefranz, damals noch so unbekannt gewesen ist. "Sagt mal", fragt Schneider via Loewenhistory, "spielt bei Euch nicht dieser Typ, der nicht zu uns kam, weil er eine Watschn kassiert hat?" Als der kleine Franz in den Fünfzigerjahren mit seinem Post SV gegen Sechzig gespielt hatte, bekam er eine Ohrfeige von einem Löwen-Spieler - und wechselte deshalb zum FC Bayern. Man kennt diese Geschichte, aber sie wird in einen anderen Kontext gestellt und dadurch passabel witzig. Platt ist hingegen die fiktive Einlassung eines Bayern, den Schneider zu den Löwen sagen lässt: "Mit Eurer überheblichen Einstellung werdet ihr maximal Bademeister." Oder war dieser Witz vor 50 Jahren noch neu?

Schneider schreibt noch als Löwe: "Wir sollen übrigens an Timo Konietzka (von Borussia Dortmund, Anm. d. Red.,) dran sein. Der Mann weiß, wie schnelle Tore gehen." Es ist, nota bene, Juli 1965. Am 14. August 1965 trafen sich 1860 und Bayern zum ersten Derby in der Bundesliga. Die Löwen siegten 1:0. Das Tor schoss Neuzugang Timo Konietzka. Er traf in der ersten Minute.

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Quelle:
SZ vom 16.07.2015
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