Süddeutsche Zeitung

Münchner Seiten:Am Rande der Gesellschaft

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Prostituierte, Kommunisten, Häftlinge: Karl Stankiewitz beschreibt in seinem Buch, wie die Münchner mit Menschen umgehen, die nicht der Norm entsprechen

Von Wolfgang Görl

Unter dem Datum des 12. Juli 1318 berichtet die Münchner Stadtchronik: "Burkard Wadler, ein wohlhabender und einflussreicher Bürger, und seine Ehefrau Heilwig machen die berühmte Wadler-Spende an das Heiliggeistspital, eine wöchentliche Speisung und eine jährliche Sonderspeisung für die Spitalinsassen sowie eine jährliche Brezenspende von je zwei Brezen an alle Armen der Stadt."

Die Hilfsaktion des frommen und wohlhabenden Paares ist ein frühes Beispiel privater Initiative, um armen und kranken Menschen im mittelalterlichen München zu helfen. Fraglos gehörten Bettler und Bedürftige zum damaligen Stadtbild, es galt als Christenpflicht, ihnen zu helfen. Vermutlich gab es auch so etwas wie ein städtisches Almosenwesen, wirklich verbürgt ist eine Verordnung aus dem Jahr 1562, derzufolge notleidende Bürger Zuwendungen aus einem Unterstützungsfonds erhalten sollten. Doch es gab auch Zeiten, in denen die Obrigkeit mit harter Hand gegen die Armen vorging, insbesondere wenn sie auf der Straße um Almosen bettelten. Die wechselvolle Geschichte der Armut in München erzählt der Journalist Karl Stankiewitz in seinem Buch "Außenseiter in München", in dem es generell um den Umgang der Stadtgesellschaft mit ihren Randgruppen geht.

Was aber ist ein Außenseiter? Mit wissenschaftlicher Schärfe lässt sich der Begriff kaum definieren, weshalb man gut daran tut, die Auswahl des Autors zu akzeptieren und eventuelle Zweifel hintanzustellen. Stankiewitz beschreibt in seinem Buch, wie die Stadt und ihre Bürger mit Menschen umgegangen sind, die nicht der jeweils gängigen Norm entsprechen: Dazu zählt er neben den Armen die Obdachlosen, die Homosexuellen, Häftlinge, Kinderarbeiter, Kommunisten, Separatisten, Prostituierte sowie die geistig Behinderten. Im letzten Kapitel widmet er sich den sogenannten Nestbeschmutzern, die schon deshalb aus der Reihe fallen, weil sie willentlich und mit Bedacht einen Standpunkt außerhalb der gesellschaftlichen Mitte einnehmen. Schriftsteller sind quasi von Natur aus prädestiniert für diese Rolle, zumal ihre Stimme in der Regel gut zu vernehmen ist. Thomas Mann etwa hat München als "die unliterarische Stadt par excellence" abqualifiziert (wobei man bei ihm ohne viel Mühe auch Huldigungen auf München finden könnte), Paul Heyse hat sich über das "reich entfaltete Klüngel- und Cliquenwesen" mokiert, Hebbel wiederum schimpfte auf den übermäßigen Hang der Münchner zum Bier. Außenseiter im engeren Sinn waren sie alle nicht - auch nicht Thomas Mann, der, eben noch angesehenes Mitglied der besten Münchner Gesellschaft, fliehen musste, um nicht den Nazis in die Hände zu fallen. Er hatte sich nicht gescheut, die Barbarei des NS-Regimes öffentlich anzuprangern.

Weitaus näher am Thema ist Stankiewitz, wenn er etwa das Schicksal von geistig Behinderten schildert. In alten Zeiten waren sie als "Narren" oder "Irre" dem allgemeinen Spott preisgegeben, wenn sie allzu sehr auffielen, steckte man sie in "Narrenhäuser" oder andere geschlossene Anstalten. Den Nazis genügte das nicht. Hermann Pfannmüller, seinerzeit Direktor der Anstalt Haar-Eglfing, hielt es für geboten, "dass wir Ärzte hinsichtlich ärztlicher Betreuung lebensunwerten Lebens auch die letzte Konsequenz im Sinne der Ausmerze ziehen". So geschah es dann auch. Stankiewitz schreibt: "Allein der Anstaltsleiter Pfannmüller soll in Haar 1119 ,Geisteskranke' als lebensunwert beurteilt und Tausende von weiteren Tötungen empfohlen haben; vielen Kindern in den ,Fachabteilungen' gab er selber die Morphinspritze."

Stankiewitz liefert einen guten Überblick, wie München über die Jahrhunderte hinweg mit seinen Randgruppen umgegangen ist. Was dabei auffällt: Keineswegs hat sich die Humanität geradlinig durchgesetzt, auf Fortschritte folgten nicht selten Rückschläge. Was die Prostitution betrifft, gab es im 15. Jahrhundert ein öffentliches Bordell im Angerviertel, und den Frauen war es durchaus erlaubt, am helllichten Tag in Wirtshäusern oder auf der Straße Freier anzulocken. Es folgten wiederum Zeiten, in denen Prostitution mit harten Strafen geahndet wurde. Eines aber gilt für beinahe alle Randgruppen: In der NS-Zeit hatten sie das Schlimmste zu befürchten. Mit der Ausgrenzung begnügten sich die Nazis nicht. Wer nicht in ihr krudes Bild der Volksgemeinschaft passte, lief Gefahr, ermordet zu werden.

Karl Stankiewitz: Außenseiter in München. Vom Umgang der Stadtgesellschaft mit ihren Randgruppen, Verlag Friedrich Pustet, 136 Seiten, 12,95 Euro.

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SZ vom 17.06.2016
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