Süddeutsche Zeitung

Münchner Momente:Invasion der Anarcho-Roller

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Für Freunde der gepflegten Anarchie ist es ein Vergnügen das wilde Treiben italienischer Rollerfahrer zu beobachten. Auch im norditalienischen München gibt es eine Vespa-Gemeinde - die sich mit Anarchie allerdings oft Ärger einhandelt

Von Wolfgang Görl

In der Filmschnulze "Ein Herz und eine Krone" brausen Audrey Hepburn und Gregory Peck auf einer Vespa durch Rom, wobei Kaffeetische, Gemüsestände und Passanten Opfer ihres unorthodoxen Fahrstils werden, der dann auch das Interesse der Polizei weckt. Nun ja, dass die italienische Polizei wegen solcher Lappalien eingreift, ist eher eine Hollywood-Fantasie. In Wirklichkeit ist es in den Gassen von Palermo, Neapel oder Rom ganz normal, dass Vespa-Fahrer über Gehsteige rasen, Fußgänger als Slalomstangen nutzen, Einbahnstraßen grundsätzlich in falscher Richtung passieren und am Feierabend über die Treppe bis vor die Wohnungstür tuckern. Vermutlich ist der italienischen Straßenverkehrsordnung ein geheimes Zusatzprotokoll angefügt, demzufolge die Verkehrsregeln für Vespas nicht gelten - oder auch für alle Fahrzeuge, man weiß das nicht so genau. Jedenfalls ist es für Freunde der gepflegten Anarchie ein immenses Vergnügen, das wilde Treiben italienischer Rollerfahrer auf den Straßen zu beobachten.

Natürlich gibt es auch im norditalienischen München eine Vespa-Gemeinde, und die könnte bald wachsen, weil die Firma "Scoo.me" demnächst 250 Mietroller in der Stadt verteilen will. Das ist einerseits lobenswert, andererseits stellt sich die Frage: Sind die Münchner reif für ein Gefährt, auf dem selbst der gewissenhafteste Beamte nach wenigen Metern zu einem Draufgänger wird, dem vor lauter Glück sämtliche Regeln wurscht sind? Um es deutlich zu sagen: Nein! So weit sind die Münchner noch nicht. Hier ist jeder Verkehrsteilnehmer zugleich Hilfspolizist, der jeden, den er bei einer Regelverletzung ertappt, am liebsten ins Zuchthaus stecken würde. Die schlimmste Demütigung für den Münchner Autofahrer aber ist, wenn sich ein Vespa-Fahrer im Stau nach vorne schlängelt. Die kollektive Wut, die dabei ausbricht, ist mitunter so groß, dass sich das anschließende Hupkonzert über die ganze Stadt ausbreitet. Einige Fahrer sind derart verbittert, dass sie zum Äußersten greifen: Aus Rache beschließen sie, demnächst selbst eine Vespa zu mieten. So funktioniert das Geschäftsmodell von "Scoo.me".

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Quelle:
SZ vom 01.06.2015
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