Süddeutsche Zeitung

Erste Stadtratssitzung:Gratulationen aus der Ferne

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Großzügig verteilt über den Zuschauerraum des Deutschen Theaters tritt der neue Stadtrat zusammen und wählt mit grün-roter Mehrheit Katrin Habenschaden und Verena Dietl zu neuen Bürgermeisterinnen.

Von Dominik Hutter

Gratulieren in Zeiten von Corona sieht ulkig aus. Manuel Pretzl, der Fraktionsvorsitzende der CSU, wirkt so, als wolle er die frisch gewählten Bürgermeisterinnen aus der Ferne umarmen, dazu geht er leicht in die Knie und strahlt übers ganze Gesicht. Andere Stadträte winken mit gebührendem Abstand, nicken nur kurz oder deuten an, was noch vor wenigen Wochen üblich und höflich war, jetzt aber verpönt ist: einen Handschlag. Die frisch desinfizierte Amtskette, ein ebenso schnörkeliges wie schwer-goldenes Trumm, müssen sich Katrin Habenschaden und Verena Dietl selbst umlegen - eigentlich zählt dies zu den Aufgaben des Oberbürgermeisters. Der muss aber Abstand halten.

Immerhin die obligatorischen Blumensträuße für die Neuen haben es auch ins Deutsche Theater geschafft, das als Ausweichstätte für den infektionstechnisch zu kleinen Alten Rathaussaal herhält: Das Gros der schwarz-roten Klappsitze muss frei bleiben, um die Abstände zu gewährleisten, ganze Reihen sind blockiert. Habenschaden, erst 2014 für die Grünen in den Stadtrat gekommen und nun schon Bürgermeisterin, ist sichtlich gerührt. Sie dankt ihrem Mann Björn, ohne ihn ausdrücklich zu nennen. "Ohne dich und die Mäuse wäre alles nichts." Wobei mit Mäuse keineswegs Finanzmittel gemeint sind. Auch Dietl dankt ihrer Familie. Und betont, welche Ehre es sei, ihrer Heimatstadt dienen zu können.

Mit der Wahl der beiden Bürgermeisterinnen ist die Münchner Stadtspitze wieder komplett. Ober-Boss Dieter Reiter wurde bereits am 29. März von den Münchnern direkt gewählt. Und zwischen der Stadtratswahl am 15. März und der feierlichen Amtsübernahme der Bürgermeisterinnen lagen mehrere Wochen Rest-Wahlkampf für die OB-Stichwahl, Koalitionsverhandlungen und die Absegnung derselben durch virtuelle Parteitage.

Nun regiert Grün-Rot im Rathaus. Erstmals in dieser Reihenfolge. Rot-Grün gab es schon einmal, 24 Jahre lang von 1990 bis 2014. Es folgten sechs Jahre Schwarz-Rot mit den Bürgermeistern Manuel Pretzl (CSU) und Christine Strobl (SPD). Habenschaden und Dietl repräsentieren nun die neuen Kräfteverhältnisse und vor allem auch neue politische Inhalte. Weshalb Pretzl für seine CSU zwar beide Politikerinnen als "honorige Stadträtinnen" und "sympathische Persönlichkeiten" tituliert. Aber sie aufgrund ihres Programms erklärtermaßen nicht wählen will.

Gegenkandidaten gibt es trotzdem keine. Weshalb sich alle Oppositionellen überlegen müssen, ob sie irgendeinen anderen Namen auf den Stimmzettel schreiben oder aber das Papier leer abgeben - was dann als ungültige Stimme gewertet wird. Und so tauchen bei der Auszählung plötzlich chancenlose Namen auf wie der des FDP-Politikers Jörg Hoffmann, der des von der SPD zur CSU gewechselten Alexander Reissl oder auch der des gescheiterten OB-Kandidaten des Satire-Trupps "Die Partei", Moritz Weixler. Einmal 31, einmal 32 Stimmen sind ungültig, was so viel wie Nein bedeutet.

Offenkundig gibt es aber auch bis zu zwei Unterstützer aus der Opposition - Habenschaden kommt auf 45, Dietl sogar auf 46 Stimmen. Das neue Bündnis verfügt, den OB schon inklusive, nur über 44 Stimmen. Streng genommen handelt es sich nicht um eine grün-rote, sondern um eine noch buntere Konstellation - die Grünen haben Thomas Niederbühl von der Rosa Liste, die SPD Felix Sproll von der Europa-Liste Volt in ihre Fraktionsreihen und damit in die Koalition aufgenommen. Ihre Stimmen sind in der Zahl 44 allerdings schon enthalten.

Zuvor hatte Reiter die neuen Stadträte vereidigt - ausdrücklich nur die neuen, bei den Wiedergewählten gilt der erste Amtseid weiter. Weil aber mehr als die Hälfte der am 15. März gewählten Stadträte erstmals im Münchner Kommunalparlament sitzt, standen dann doch sehr viele auf, als der Oberbürgermeister die Eidesformel vorsprach. Variationen inklusive: Man kann schwören oder geloben, und ob man auch noch die Hilfe Gottes einfordert, bleibt jedem selbst überlassen.

Neben den Bündnispartnern Grüne (23 Mandate, mit Rosa Liste 24) und SPD (18, mit Volt und OB 20) sitzen die CSU als mit Abstand stärkste Oppositionspartei (20 Mandate) sowie die Fraktionen ÖDP/Freie Wähler (mit der wachstumskritischen München-Liste sechs Mandate), FDP/Bayernpartei sowie Linke/Die Partei (jeweils vier) im neuen Stadtrat. Dazu kommen drei AfD-Stadträte, mit denen sich niemand zur Fraktion zusammengeschlossen hat. Sie werden nach einer am Montag beschlossenen Änderung des Zählverfahrens als einzige keine Sitze in den Fachausschüssen erhalten und können somit nur an den Vollversammlungen teilnehmen.

Bei der Eröffnungsrede Dieter Reiters klatschten die neuen AfD-Stadträte trotzdem artig mit. Anfangs, als es um den Zusammenhalt der Münchner ging. Später, als Reiter Populismus kritisierte und eine klare Trennlinie zu "purem menschenverachtenden Zynismus oder demokratiefeindlichen Thesen" anmahnte, blieb es dauerhaft still auf den AfD-Plätzen. Jedem im Theatersaal war klar, wer mit diesen Sätzen gemeint war.

Der Hauptteil von Reiters Rede aber drehte sich um das, was die konstituierende Sitzung des Stadtrats von allen bisherigen der Nachkriegszeit unterschied: Dass München weiterhin mit einer Pandemie zurechtkommen muss. Reiter dankte allen, die trotz Gesundheitsgefahren das soziale Leben am Laufen halten und mahnte baldmöglichst Perspektiven an, "wann und inwieweit im öffentlichen Leben wieder eine gewisse Normalisierung eintreten kann". Die Stadt werde sich bemühen, die wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns so gut wie möglich abzumildern. Und auch die Kultur zu stützen, die "definitiv kein Luxusgut" sei. Der SPD-Politiker zeigte sich zuversichtlich über die Robustheit der Münchner Wirtschaft und lobte die vorausschauende städtische Finanzpolitik, die die jetzigen Hilfen überhaupt erst möglich mache.

Mit Katrin Habenschaden besetzt erstmals eine Grüne die Position der Zweiten Bürgermeisterin - zwischen 1990 und 2014 war der Partei stets die Nummer Drei vorbehalten. Eine Phase mit zwei Bürgermeisterinnen gab es hingegen schon einmal: 1993, als der damalige Zweite Bürgermeister Christian Ude zum OB wurde, rückte für ihn Gertraud Burkert an die Seite der seit 1990 amtierenden Dritten Bürgermeisterin Sabine Csampai.

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