Süddeutsche Zeitung

Sexualdelikte in München:"Das ist ein unfassbarer Zustand"

Lesezeit: 3 min

Hochrechnungen zufolge kommt es in München jährlich zu rund 4000 Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen, von denen nur ein Bruchteil angezeigt wird. Die Stadt will künftig mehr tun, um Opfern zu helfen.

Von Ekaterina Kel

Wer Opfer sexueller Gewalt geworden ist, weiß oft nicht, wohin er oder sie sich wenden soll. Es ist fast immer ein traumatisches Erlebnis, begleitet von Ängsten, Schamgefühlen und Selbstzweifeln. Und wenn man sich dann doch dazu entschließt, die Tat anzuzeigen, benötigen die Ermittler Beweise.

Wie sichert man die Spuren der Tat bei einer Untersuchung, damit die Anzeige nicht ins Leere läuft? Und wie stellt man sicher, dass die Opfer die bestmögliche medizinische Versorgung nach einem Übergriff erfahren? Damit haben sich am Donnerstag Stadträte im Gesundheitsausschuss der Stadt befasst. Über alle Fraktionen hinweg herrschte große Einigkeit darüber, wie wichtig dieses Thema sei und dass hier Handlungsbedarf bestehe. Bis Ende 2021 will das Gesundheitsreferat deshalb ein Konzept erarbeiten, wie den Opfern sexueller Gewalt besser medizinisch geholfen werden kann, damit sie die Möglichkeit haben, den Fall auch noch Jahre später der Polizei zu melden.

Die Lücke ist nämlich genau da: Viele Opfer zeigen die Tat nicht an. Im Jahr 2019 wurden in München 1137 Sexualdelikte von der Polizei erfasst. Davon betroffen waren nach Angaben der Polizei fast zu 90 Prozent Frauen. Bei mehr als 35 Prozent der Fälle kamen die Täter aus dem Familien- oder Bekanntenkreis. Ein erhöhtes Risiko, Opfer von sexueller Gewalt zu werden, tragen laut Hilfsorganisationen Frauen mit Behinderungen und geflüchtete Frauen.

Die Anzahl der tatsächlich begangenen Sexualdelikte wird deutlich höher geschätzt. Laut Dunkelfeldstudien werden nur zwischen sechs und 15 Prozent aller Sexualdelikte angezeigt. Das Referat für Gesundheit und Umwelt (RGU) errechnete, dass in der Stadt München jährlich bis zu 4000 Vergewaltigungen, sexuelle Nötigungen oder sexuelle Übergriffe in besonders schwerem Fall vorkommen.

"Das ist ein unfassbarer Zustand", sagte Barabara Likus (SPD) im Hinblick auf diese Zahlen. Auch Ulrike Grimm (CSU) sah das ähnlich: In einem emotionalen Wortbeitrag berichtete sie von drei Fällen, in denen sie selbst Opfern sexueller Gewalt beigestanden hatte. In einem Fall von Vergewaltigung wisse sie, dass der Täter immer noch frei herumlaufe, weil die Betroffene ihn nie angezeigt habe. Was sie am meisten besorge, sei, dass dieser Mann "weiß, dass diese Masche zieht".

Was kann die Politik tun? Zunächst einmal für Aufklärung sorgen, das stellte der Gesundheitsausschuss klar. Es gibt zahlreiche Angebote von Hilfsorganisationen. Deshalb hat man sich einstimmig für eine Öffentlichkeitskampagne ausgesprochen, um gegen geschlechtsspezifische Gewalt vorzugehen. Ein Netzwerk zur besseren Koordinierung der Hilfsangebote in München wurde ebenfalls beschlossen.

Entscheidend dafür, dass mehr Taten angezeigt werden, ist aber auch, dass eine medizinische Untersuchung so schnell wie möglich nach der Tat erfolgt. Denn dabei können Ärzte wichtige Spuren sichern. Bisher sind die richtigen Vorgehensweisen dafür jedoch kein standardmäßiger Bestandteil der Ausbildung von Ärzten oder Pflegern. Das Gesundheitsreferat will sich dafür einsetzen, dass zumindest an der München Klinik, die ja ein städtisches Unternehmen ist, Unterrichtseinheiten eingeführt werden, um das medizinische Personal auf diesem Gebiet besser vorzubereiten. Bisher ist es außerdem so, dass beispielsweise an der München Klinik nur medizinische Untersuchungen gemacht und Spuren gesichert werden, wenn eine Anzeige bereits vorliegt. Die Kriminalpolizei bringe die hierfür notwendigen Gefäße mit, heißt es in einer Stellungnahme der München Klinik, die das Gesundheitsreferat zu diesem Thema eingeholt hat. Man selbst habe keine rechtliche Befugnis dazu, die Spuren zu verwahren.

Die bisher wichtigste Anlaufstelle für Opfer sexueller Gewalt ist das Institut für Rechtsmedizin an der Ludwig-Maximilians-Universität. So hat das Institut nach eigenen Angaben etwa 550 Opfer sexueller Gewalt im Jahr 2018 untersucht, davon 22 ohne Anzeige. Wichtig für die richtige Untersuchung und Spurensicherung sei unter anderem, dass die Spuren über einen längeren Zeitraum gelagert werden können, damit die Opfer sich gegebenenfalls nach der Verarbeitung des Traumas oder nach der Trennung vom Partner zu einer Anzeige entschließen können. Am Institut für Rechtsmedizin geschieht dies für zwei Jahre. Zudem sei es wichtig, dass auch auf sexuell übertragbare Krankheiten getestet oder ein möglicher Einfluss von Sucht- oder Betäubungsmitteln untersucht wird, wie das Gesundheitsreferat in der Beschlussvorlage herausstellt.

Zudem herrschte im Ausschuss Einigkeit darüber, dass die notwendigen Untersuchungen kostenlos stattfinden müssen. Gesundheitsreferentin Beatrix Zurek (SPD) und der Grünen-Fraktion schwebte ein Soforthilfefonds mit Geld von Stiftungen oder Spenden vor, der dies ermöglichen könnte. Der Ausschuss nahm den Vorschlag am Donnerstag einstimmig an. Gemeinsam mit allen beteiligten Akteuren will man außerdem erarbeiten, wie Opfern sexueller Gewalt medizinisch besser geholfen werden kann. Das Thema bleibt somit weiter auf der Agenda.

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Quelle:
SZ vom 11.12.2020
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