Süddeutsche Zeitung

Prozess:Flugblattaktion landet vor Gericht, aber die Verhandlung endet schnell

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Aus dem Gericht von Susi Wimmer, München

Auch wenn die geschichtliche Dimension eine andere ist, die Szenen gleichen sich doch. Im Februar 1943 warf die Widerstandskämpferin Sophie Scholl Flugblätter in den Lichthof der Ludwig-Maximilians-Universität in München, um gegen das Nazi-Regime aufzubegehren. 75 Jahre später, im September 2018, sieht die Örtlichkeit, an der zwei Protagonisten ihre Flyer gegen rechts verteilen wollen, etwas anders aus: Lena F. und Lucas B. ließen sich auf der Wiesn im Jules-Verne-Tower auf 80 Meter hochziehen und warfen ihre auf Englisch verfasste, politische Nachricht unter das Oktoberfest-Volk. Die Staatsanwaltschaft allerdings war der Meinung, dass die politische Botschaft auch missverstanden werden könnte, und zwang die heute 18-Jährigen mit einer Anklage vor das Jugendgericht am Amtsgericht München.

Lena F. studiert heute Politikwissenschaften. Sie ist das, was man eine politisch interessierte und engagierte junge Frau nennen könnte. Sie beteiligt sich an den "Fridays for Future"-Demos und betrachtet das Wiedererstarken rechtsextremer Parteien in Deutschland mit Sorge. Zusammen mit Gleichgesinnten entwarf man ein Flugblatt, auf dem ein Bild von einem Nazi zu sehen ist, der in Chemnitz bei einer Demo den Hitlergruß zeigt. Das Gesicht des Mannes ist gepixelt, das Bild ging damals durch viele überregionale Medien. Darunter schrieben die Aktivisten: Nazi Scum, übersetzt: Nazi Abschaum. Auf der Rückseite mahnen die jungen Leute zur Vorsicht, dass nicht wieder Angst, Lügen und Hass in die Gesellschaft einziehen, dass die Leute nicht wegschauen sollten, dass Deutschland nicht mehr weit davon entfernt ist, wieder faschistisch zu werden. Zugleich riefen sie zu einer Demonstration gegen das neue Polizeiaufgabengesetz Anfang Oktober auf.

Am 30. September 2018, das mittlere Wiesn-Wochenende, zu dem bekanntermaßen vor allem Italiener anreisen, startete die konzertierte Aktion. Die jungen Leute verteilten sich auf Riesenrad, Freefall und Jules-Verne-Tower, ließen sich nach oben fahren und gegen 17.30 Uhr die Blätter von den Fahrgeschäften auf die Wiesnbesucher regnen. Allerdings gelang die Aktion nur fast gleichzeitig. Während am Riesenrad und an Freefall die Aktionisten die Blätter zuerst abwarfen und anschließend unbehelligt von dannen ziehen konnten, war die Polizei nun schon gewarnt. Als Lena F. und Lucas B. ihre Flyer in den weiß-blauen Himmel geworfen hatten, wurden sie unten auf dem Boden der Tatsachen festgehalten und der Polizei übergeben.

Die weitere Geschichte erzählt Markus G. Fischer, Anwalt der Politikstudentin. Ein Polizist habe die Flugblätter nicht richtig verstanden und sei sich unsicher gewesen, ob eine Straftat vorliege, nämlich das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. Also, dass die Jugendlichen bewusst Nazi-Propaganda verbreiten wollten. "Unter dem Foto stand ,Nazi Abschaum', mehr kann man sich ja wohl nicht distanzieren", sagt der Anwalt. Das Flugblatt sei bewusst wegen der vielen ausländischen Wiesngäste auf Englisch gehalten gewesen. Es habe auch noch andere Flugblätter auf Italienisch gegeben.

Nichtsdestotrotz zog die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren durch, da sie die Gefahr sah, dass man den Flyer auch anders hätte verstehen können. Ergo stand am Montag die Verhandlung vor dem Amtsgericht an. Doch die Sitzung dauerte kaum länger als der Flug der Flyer auf den Boden: Nach Verlesung der Anklage einigte man sich darauf, das Verfahren ohne Auflagen einzustellen.

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SZ vom 27.08.2019
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