Süddeutsche Zeitung

Null Acht Neun:Die Entdeckung der Langsamkeit

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Wer derzeit in München mit der U-Bahn unterwegs ist, fühlt sich an den Weltbestseller von Sten Nadolny erinnert. Über die Widrigkeiten des Nahverkehrs in der Stadt.

Glosse von Andreas Schubert

Dieser Tage, man war gerade in der Stadt unterwegs, kam einem ein einst von der Kritik hochgelobter Bestseller in den Sinn, der zwar schon vor 40 Jahren herauskam, aber an Aktualität nichts eingebüßt hat. In "Die Entdeckung der Langsamkeit" von Sten Nadolny geht es um einen John Franklin, der zwar von Natur aus langsam ist, mit großer, fast schon störrischer Beharrlichkeit aber letztlich sein Ziel erreicht.

Nein, Franklin war nicht etwa ein Münchner U-Bahn-Passagier, als Seefahrer und Polarforscher des 19. Jahrhunderts waren eher Schiffe sein Ding. Aber weil man als ÖPNV-Fahrgast gerade gar so schön die Langsamkeit entdeckt, taugt er in Sachen Beharrlichkeit noch heute als Vorbild. Zum Beispiel dann, wenn man mit der U3 oder U6 über die Nordpassage kommt und am Odeonsplatz strandet. Dort gilt es erstmal ein Meer aus anderen Fahrgästen zu durchqueren, um den Pendelzug gen Sendlinger Tor zu erreichen, von wo aus es oberirdisch Richtung Goetheplatz weitergeht.

Diese Südwest-Passage über die Lindwurmstraße ist wegen ihrer Widrigkeiten berüchtigt. Momentan wird sie in beiden Richtungen von menschlichen Sardinenschwärmen heimgesucht, die sich in große Blechbüchsen, vulgo Busse, zwängen und von dort aus den Fußgängern beim Überholen zuschauen, während kleinere Blechbüchsen, umgangssprachlich auch Autos genannt, die Strömung bremsen. Radeln kann man entlang der Lindwurmstraße natürlich auch, dafür braucht es aber eher Mut als Beharrlichkeit.

Freilich kann die Münchner Verkehrsgesellschaft nichts dafür, dass ihre U-Bahn, die als Rückgrat des Verkehrs gilt, immer wieder mal an der Bandscheibe operiert werden muss. Bei einem Alter von über 50 kann das schon mal vorkommen. Immerhin geht es der U-Bahn nicht ganz so schlecht wie ihrer gleichaltrigen Cousine, der S-Bahn, die inzwischen fast täglich an Lähmungserscheinungen leidet.

Beide werden sich, so ist zu wünschen, irgendwann von ihren Leiden erholen. Das immerhin hätten sie dem Seemann Franklin voraus, der von seiner letzten Fahrt nie zurückkehrte. In München kommt man dagegen in der Regel immer irgendwie an und irgendwie auch wieder heim, die Frage ist halt nur: wann. Zeit, den Roman zu lesen, gäbe es im ÖPNV derzeit genug. Er hat nur 384 Seiten, zwei Fahrten zur Arbeit und zurück müssten da reichen.

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