Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: Nachtgeschichten:Das Schaufenster der Stadt, auch lange nach Ladenschluss

Lesezeit: 4 min

Zwischen Marienplatz und Stachus wird tagsüber auf Hochleistungsniveau eingekauft. Nur weil die Läden geschlossen sind, hat das Treiben in der Fußgängerzone noch längst kein Ende.

Von Stephan Handel

Dieses süße Gift. Rainhard Fendrich singt ja, dass die Nacht es den Menschen zwischen eins und vier injiziert, woraufhin sie spüren, wie vieles seine Wichtigkeit verliert. Die Münchner Nacht an diesem Samstag ist, was das betrifft, ein bisschen früh dran - gerade mal 22 Uhr ist's durch, aber obwohl sich am Marienplatz die Rikschas gegenseitig in die Flanken fahren, schwingt durch die Fußgängerzone bereits jetzt eine Leichtigkeit, jetzt, wo die Hitze des Tages angenehm zurückstrahlt von den Häuserfronten, wo die Laternen warm leuchten wie ein Versprechen und die Menschen durch die Straßen flanieren, als hätten sie nichts zu tun.

Haben sie ja auch nicht - der Großteil der Leute in der summenden Fußgängerzone sind erkennbar keine Hiesigen, es wird englisch, französisch, russisch, asiatisch geschnattert. Das Rathaus ist beleuchtet eine noch größere Sensation als tagsüber, und die Fotos, die mit und ohne Selfiestick gemacht werden, dürften in die Tausende gehen. Mittendrin Denis aus Aserbaidschan mit seiner Rikscha, er ist den Hackordnungskämpfen seiner Kollegen aus dem Weg gegangen und wartet ruhig auf Kundschaft; die würde er für zehn Euro zum Bayerischen Hof radeln (und verschweigen, dass sie in fünf Minuten zu Fuß dort wären). Die Frage, wie viel denn eine Fahrt zum Beispiel nach Taufkirchen kosten würde, versteht Denis nicht - ist offensichtlich nicht mehr sein Geschäftsgebiet. Aber 12 Euro kostet der Kilometer, sobald's über den Altstadtring hinausgeht, so viel kann Denis noch sagen, dann kommt schon die nächste Fuhre.

Die Wärme der Nacht, Selfies vor dem Rathaus.

Der Junggesellinnen-Abschied aus Landsberg.

Helly Meiller mit seiner Gitarre.

Und Denis, der Rikschafahrer aus Aserbaidschan.

Nachts ist die Fußgängerzone ein Ort zum Flanieren.

Marienplatz, Kaufinger- und Neuhauser Straße sind die meistfrequentierten Einkaufsmeilen Deutschlands - an Samstagen tagsüber werden hier an die 17 000 Passanten pro Stunde gezählt, auf der Suche nach einem T-Shirt für drei Euro oder einer Handtasche für 2000. Die Gewerbemieten sind entsprechend - an die 400 Euro für den Quadratmeter, und wenn jemand Grund kaufen möchte, so müsste er für eine Bodenplatte in der Kaufingerstraße rund 160 000 Euro hinlegen.

Das ist den Flaneuren an diesem Abend natürlich egal, eilig hat es niemand, gehen und schauen - und manchmal ein bisschen hören: Beim C&A steht Helly Meiler, hat mit Kreide rund um sich eine Linie auf den Boden gemalt und fordert die Passanten auf näherzutreten: "Come online!" Zum Reden hat er gerade keine Zeit, fast 100 Leute wollen bespaßt werden. Meiler gehört sozusagen zum Inventar der Fußgängerzone, seit mehr als 30 Jahren tritt er mehrmals die Woche auf, heute in kurzen Jeans und Sandalen, mit "Let it be" und Simon & Garfunkel und jeder Menge Anmache ohne allzuviel Angst, jemandem inkorrekt auf die Zehen zu treten: Ein Zuhörer von erkennbar asiatischer Herkunft heißt ab sofort nur noch "China", auf Englisch natürlich: "Tscheina", und beim weiblichen Teil eines deutschen Ehepaars glaubt Meiler eine Doppelgängerin von Janis Joplin entdeckt zu haben, obwohl die Frau mit Janis so viel Ähnlichkeit hat wie Meiler mit Robby Williams. Hauptsache Spaß, im Gitarrenkoffer klingelt das Kleingeld.

Wenn Helly Meilers Gitarrengeschrammel die Ohren verlassen hat, dann könnte sich der Blick vielleicht einmal nach oben richten, weg von den Hochleistungsverkaufsfenster, dort, wo noch schöne alte Gründerzeit-Fassaden zu sehen sind, ein unreguliertes Durcheinander aus Neoklassik, Neogotik und ab und zu sogar ein bisschen Jugendstil. Am Stachus der Brunnen scheint müder zu plätschern als tagsüber; vielleicht fragt sich ja mancher der Touristen, warum die Münchner nicht den schlanken, leicht verständlichen Namen Karlsplatz verwenden für diesen Endpunkt der Fußgängerzone, sondern einen, dessen Sinn sich dem Fremden auch bei angestrengtestem Nachsinnen nicht erschließt, Ja könnte ihn der Münchner aufklären, der Platz ist offiziell nach dem Kurfürsten Karl Theodor benannt, den konnten die Münchner aber nicht leiden, erstens überhaupt und zweitens, weil er aus der Pfalz war. Deshalb gaben sie dem Platz lieber den Namen eines hier ansässigen Wirtes als den des Regenten, was über ihr Verhältnis zur Obrigkeit vielleicht mehr aussagt als die Ergebnisse der Landtagswahlen.

Allein die Münchner sind rar

Dieses süße Gift. Es ist schon wieder eines, das sich ins Ohr schleicht statt in die Nase: Unter einer Arkade sitzt Ralph Kiefer und lässt Arpeggien aus seinem Klavier perlen. Er hat Zeit für ein Gespräch, Moment, muss nur noch schnell... eine kleine Schlussfigur, eine Kadenz, schon hat er das Stück zu Ende gebracht, er darf das, er hat's ja auch komponiert. Seit zwei Jahren lebt Kiefer von der Straßenmusik und ernährt seine Familie damit. Das Klavier verfügt nicht nur über ein Fußpedal wie für eine Basstrommel, auch ein kleines Becken hat er drangeschraubt und einen Sonnenschirm mit Bommeln, außerdem Räder und zwei Griffe wie an einer Schubkarre, so kann er das Instrument alleine zum Lagerraum in der Nähe fahren.

Nein, sagt er, Münchner hat er noch keine gesehen heute Abend, aber das macht nichts - er ist ein Anlaufpunkt für alle Nationen. Sie kaufen seine CDs, und über Mails oder soziale Netzwerke hält er Kontakt. Neulich hat ihm ein Chinese mitgeteilt, dass er eins von Kiefers Stücken in seiner Heimat auf das dortige Pendant von Spotify hochgeladen hat, das hat jetzt schon fünf Millionen Klicks. Aber leider, sagt Kiefer, sei das für ihn nicht zu erreichen, so bleibt ihm die Ehre, aber kein Geld.

Beim Donisl räumen sie langsam die Tische vor der Tür ab, auch vorm Augustiner sieht's schon sehr nach letzter Runde aus, für Alessandra und ihre fünf Freundinnen allerdings hat der Abend erst vor Kurzem begonnen: Alessandra trägt Schleier und Krönchen, alle tragen rosa Schärpen mit der Aufschrift "Braut Crew", womit klar ist, worum's geht: Am 3. August wird Alessandra heiraten, deshalb sind sie heute von Landsberg nach München gefahren, um Junggesellinnen-Abschied zu feiern, eine recht neue Mode, die sich nicht überall ungeteilter Beliebtheit erfreut.

Die sechs Landsbergerinnen machen jedoch nicht den Eindruck, als wären sie auf Krawall aus. Das Frivolste, das sie in einer Art Bauchladen mit sich führen sind Kondome und, na ja, "Sex Toys", die allerdings bei unschuldigen Gemütern auch als Haargummis durchgehen würden. Und etwas zu trinken natürlich: Selbstgemischt sind der Nimm-2-Schnaps und der Multivitamin-Schnaps, das Stamperl ein Euro für die Hochzeitskasse. Eine kleine Verkostung ergibt, dass sehr viel Multivitamin und sehr wenig Schnaps Eingang in die Flasche gefunden haben. Sparsamkeit? Ist ja fast schon Schwaben, dieses Landsberg.

Die sechs Mädel ziehen weiter, aufgeregt giggelnd, weil sie nicht wissen, was passieren wird, heute und überhaupt. Sie waren Bestandteil einer Nacht in der Münchner Fußgängerzone, die nun langsam zu Ende geht - nicht weil der Sonnenaufgang naht, sondern weil sich die Straßen nun langsam leeren, die Kaufingerstraße, die Neuhauser Straße, der Marienplatz, der Stachus. Das Schaufenster der Stadt, dessen Schönheit viel besser zu sehen ist, wenn die Geschäfte geschlossen sind, wenn das Laternenlicht warm leuchtet und die Häuser die Hitze des Tages sanft zurückstrahlen. Wenn die Nacht den Menschen ihr süßes Gift injiziert.

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Quelle:
SZ vom 29.07.2019
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