Süddeutsche Zeitung

Arbeiten der MVG:Wenn im Untergrund die Funken sprühen

Lesezeit: 4 min

Nachts ist im U-Bahn-Schacht die Hölle los. Ein 43 Meter langer und 125 Tonnen schwerer Schleifzug macht derzeit die Schienen fit. Etwa alle zwei Jahre muss das komplette Netz geschliffen werden: 230 Kilometer. Ein Besuch am Gleisbett.

Von Thomas Becker

Nachts, wenn der letzte Zug ins Depot gerattert ist, wird es still im Untergrund. Schicht im U-Bahn-Schacht. Ein Irrglaube. Dass es anders ist, hat Axel Hacke schon 1991 gewusst und in "Nächte mit Bosch" auf unnachahmliche Weise aufgeschrieben. Eine der "18 unwahrscheinlich wahren Geschichten" des Kolumnisten heißt "Das Wüste lebt" und beschreibt den drögen Pendler-Alltag von Erich Scheitelmüller. Der nimmt irgendwann die letzte Bahn um 0.41 Uhr nicht, bleibt und erlebt sein blaues Wunder, als ein leerer S-Bahn-Wagen vorbeirauscht: "Leer? Vorn am Steuer saß ein Eisbär, und im Fahrgastabteil standen Flamingos, trotz der großen Geschwindigkeit jeder nur auf einem Bein. Auf einem der roten Sitze hockte ein Krokodil auf den Hinterbeinen und drückte sich die Schnauze an der Scheibe platt. (...) Aus dem Tunnel galoppierten drei Nashörner, verschwanden wieder im Dunkel des Schachts. (...) Irgendwo heulte ein Wolf oder bloß ein Hund oder warum nicht eine Hyäne?" Aus dem Tunnel schwoll ein Donnergrollen daher, steigerte sich zum Orkan, bis schließlich eine Herde Gnus am Fahrdienstleiterkabuff vorbeistampfte."

So viel zur Ruhe am Gleis. Und wer mit Maximilian Munk durchs mitternächtliche Gleisbett läuft, kann bestätigen, dass es auch im U-Bahn-Schacht des nächtens laut und heiß hergeht. Zumindest, wenn der Schleifzug fährt.

"Schweres Nebenfahrzeug" steht auf der Plakette des schmutzig-gelben Ungetüms, das da funkensprühend durch den U3-Bahnsteig des Olympia-Einkaufszentrums kraucht und zischt und rumpelt. Schwer ist dieser Schleifzug in der Tat: 125 Tonnen bei 43 Meter Länge. "Der schleppt noch 2000 Liter Löschwasser und 3500 Liter Diesel", sagt Maximilian Munk, der bei der MVG für die Instandhaltung der U-Bahn-Fahrwege zuständig ist. Und dazu braucht man so einen Schleifzug, um sogenannte Fahrflächenfehler im Längs- und Querprofil der Schienen zu korrigieren. Munk erklärt: "Die Schiene verliert nach und nach Profil, es entstehen erste kleine Risse, die im schlimmsten Fall zum Schienenbruch führen."

Dass sich nach einer gewissen Zeit eine Materialermüdung einstellt, liegt auf der Hand. 2018 beförderte die Münchner U-Bahn 413 Millionen Fahrgäste. In Fahrzeugen der 2014er-Baureihe C2 haben bis zu 940 Personen Platz, was sich bei 80 Kilo Durchschnittsgewicht zu 75 200 Kilo Last summiert, transportiert bei einer mittleren Reisegeschwindigkeit von 35 Stundenkilometern - da muss der DIN-genormte Maschinenstahl 49E1 einiges aushalten. Zwei Mal im Jahr gibt es visuelle Inspektionen durch die Röntgenaugen des Bezirksmeisters, etwa alle zwei Jahre muss das komplette U-Bahn-Netz geschliffen werden: 230 Kilometer Gleis. Und das alles in der Nacht, während der Betriebsruhe zwischen 1.30 und 4 Uhr.

Hier draußen unter dem Olympia-Einkaufszentrum, in einem sogenannten Außenarm, wird die Strecke dagegen schon um 22.30 Uhr für die Schienenpflege gesperrt und ein Schienenersatzverkehr eingerichtet. Zwei Mal im Jahr bucht die MVG den Schleifzug der Genfer Firma Speno, einmal für sechs, einmal für fünf Wochen. Der kommt auf DB-Schienen aus der Schweiz angetuckert und kann dank gleicher Spurbreite am Bahnhof Freimann auf die U-Bahn-Gleise wechseln. Mit vier bis sechs Stundenkilometern arbeitet sich das Schwergewicht von Station zu Station, 24 computergesteuerte Schleifaggregate lassen dabei die Funken sprühen wie bei Arbeiten mit einer Flex. Etwa sechs Mal poliert der Zug die Schienen, bis das gewünschte Soll-Profil erreicht ist. Viel Aufwand dafür, dass am nächsten Morgen kaum ein Fahrgast merken wird, dass er auf frisch geschliffenen Schienen unterwegs ist.

Nötig sind die Arbeiten aber natürlich trotzdem. Drei Szenarien gebe es, sagt MVG-Mann Munk: "Neue Schienen müssen zunächst geschliffen werden. Dann gibt es das präventive Schleifen, um Schienenfehler durch Rollkontaktermüdung zu vermeiden. Und schließlich das korrektive Schleifen, wenn sich bereits Riffeln oder Wellen gebildet haben."

Munk ist Bauingenieur, Spezialgebiet Verkehrswesen. Einer, der in London oder New York andere Dinge hört und sieht als normalsterbliche U-Bahn-Nutzer. Im Münchner Untergrund trägt er gelbe Warnweste, FFP2-Feinstaubmaske ("Wegen der Rauchgase!") und die Taschenlampe wie die SEK-Beamten im Krimi: immer im Anschlag. Die Tür am Ende des Bahnsteigs, die die James Bonds der Kinowelt immer so spektakulär überwinden, sperrt er einfach mit dem Schlüssel auf, leuchtet auf den Boden neben dem Gleisbett und sagt: "Die milchige Flüssigkeit hier ist eine Art Schmierfilm, die vorab vom sogenannten Waschzug versprüht wird, damit sich nachher, wenn der Schleifzug kommt, erst gar keine Glutnester bilden können."

Und dann kommt auch schon das Ungetüm, weder zu übersehen noch zu überhören: oben zwei grell leuchtende Scheinwerfer, unten fliegen rechts und links die Funken. So in etwa wird sie wohl aussehen, die Apokalypse. Der Geräuschpegel schwillt an zum Donnergrollen, doch statt einer Herde Gnus röchelt bloß der Zug vorbei. Auf Höhe des Motors weht einem saunaheiße Luft ins Gesicht, nicht ohne Grund steht da "Caution! Hot surface! Do not touch!" Der Schleifzug hinterlässt Spuren: nicht nur auf den frisch gebügelten Schienen, die in der Tat anders aussehen als zuvor, sondern auch im Schotterbett. Kleine Glutnester müssen von zwei hinterher trottenden Brandwachen in Sauerstoffmasken gelöscht und abfallende Schlackeklumpen in Blecheimern eingesammelt werden. Nach ein paar Minuten ist es dann verschwunden, das Licht am Ende des Tunnels.

Eine Sisyphos-Arbeit, diese Schleiferei. Kaum ist man einmal durch mit dem gesamten Streckennetz, kann man am anderen Ende wieder anfangen. Pro Jahr müssen rund fünf Kilometer Schienen und Weichen erneuert werden. Und dann schwebt ja noch das Damoklesschwert namens Generalsanierung über der bald 50 Jahre alten U-Bahn. Erst neulich mussten zwischen Giselastraße und Münchner Freiheit nach dem Motto "Alles muss raus" neun Weichen getauscht und das Gleisbett erneuert werden: "Das ging runter bis auf den Tunnelboden", erzählt Maximilian Munk.

So schnell wird das also nichts mit der Stille im Untergrund. Wie bei Hackes Scheitelmüller, der aus dem Staunen nicht mehr rauskommt: "Ein Löwe trottete die Rolltreppe hinunter und verschwand im Notausgang. (...) Eine Draisine rollte das Gleis entlang, bedient von zwei schweißglänzenden sibirischen Tigern. (...) Auf Speedy Max, einem mittelmäßigen Trabrennpferd, raste in gestrecktem Galopp der Münchner Oberbürgermeister durch den Bahnhof. Dann war alles ruhig."

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Quelle:
SZ vom 13.11.2020
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