Süddeutsche Zeitung

Trister Corona-Herbst:Das Leben hat Pause

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Im Umgang mit dem Lockdown haben die Münchner diesmal fast schon Routine. Doch die nächsten Wochen werden dennoch vielen aufs Gemüt schlagen.

Essay von Dominik Hutter

Ein letzter Cappuccino geht immer. An den Tischen vor dem "L'Americano" in der Reichenbachstraße sitzen ein paar Nicht-Verfrorene mit ihren Tassen in der Hand. Ansonsten wirken die Freiluft-Kneipen auf Gehwegen und Parkstreifen des Gärtnerplatzviertels ziemlich verloren in diesen kühlen grauen Tagen. Wie ein Symbol: Das Relikt eines Sommers, der im Großen und Ganzen dann doch noch Sommer sein durfte. Der nun aber unwiderruflich vorbei ist, erkennbar am Dauerregen, den frostigen Temperaturen, der frühen Dunkelheit.

Der Oktober endet nun wie der Frühling begonnen hat: mit einem Lockdown. Nur dass diesmal nicht die warme Jahreszeit ins Haus steht, mit steigenden Temperaturen und Mittagsnacks aus Styroporschachteln auf einer sonnenbeschienen Parkbank. Sondern monatelang Kälte, Dunkelheit und Heizungsluft. Eingeschränkte Kontakte. Das kann einem schon aufs Gemüt schlagen.

Nächste Woche werden auch die letzten Bretterverschläge, Almhüttenrepliken, Dschungelbalkone oder Gewächshäuser - vom Rathaus Schanigärten getauft - verwaist sein. München, seine Gastronomie und viele weitere Branchen gehen zum zweiten Mal in den Lockdown, diesmal unter winterlichen Bedingungen. Umsonst erst einmal der gut gemeinte Stadtratsbeschluss, dass die Schanigärten auch über den Winter bleiben können. Und sogar ganz unökologisch mit Heizpilzen bestrahlt werden dürfen, was in der Praxis allerdings kaum vorkommt. Diese Chance können die Wirte nun zumindest im November nicht wahrnehmen, es heißt schon wieder: zusperren. Und ob es im Dezember noch sinnvoll ist, wird sich zeigen. Die Münchner werden auch nach dem Corona-Lockdown nicht als Polarforscher ihr Abend-Bierchen einnehmen wollen.

Gärtnerplatz. Ausgangspunkt des coronabedingten Alkoholverbots - auch das hat sich weitgehend erledigt. Witterungsbedingt. Im Schaufenster eines Optikers steht ein original italienischer Wegweiser mit der Aufschrift "Roma". Italiens Hauptstadt und damit auch Piazza Navona, Fontana di Trevi oder die Spanische Treppe sind wieder fast so weit weg wie im Frühjahr. Zwar sind die Grenzen noch offen, die zahlreichen Reisewarnungen samt Test- und Quarantänepflichten dürften den Münchnern aber auch in den anstehenden Herbstferien den Reisespaß vergällen. Es heißt erneut: daheimbleiben. Lieblingslokale mit dem Bestellen von Abholessen unterstützen. Spazierengehen. Und vielleicht ein paar Weinflaschen öffnen, im Wohnzimmer im Schein der Kerzen. Bestimmt findet sich ein Rezept für typisch römische Spaghetti cacio e pepe.

Maskenpflicht in der Fußgängerzone? Inzwischen wirkt das recht normal

Anders als im Frühjahr ist vielen Münchnern der Umgang mit den Corona-Accessoires schon vertraut. Wer hätte es vor einem Jahr für möglich gehalten, dass im Herbst 2020 alle ganz selbstverständlich wie die Bankräuber mit Gesichtsmaske durch die Fußgängerzone rennen. Inzwischen wirkt das ganz normal, und wie ein Marsch durch die Kaufinger- und Neuhauser Straße zeigt, halten sich auch die meisten an die per Schild verordnete Maskenpflicht. Schwarze Masken, bunte mit Schottenkaros, blaue mit Sternchen oder der Patriotenschurz im weiß-blauen Rautenmuster. Neue Kleidungsstücke müssen für alle Geschmäcker geeignet sein.

Gut, es gibt jenen mittelalten Mann, der heftig hustend über den Marienplatz schreitet, weder Hand noch Ellenbogen vorm maskenfreien Gesicht. Die Frage "Soll ich was sagen?" zählt zu den geläufigen Gesprächsthemen in diesen Corona-Tagen. Wer will schon die strenge Gouvernante herauskehren oder den Blockwart? Andererseits sind das genau die Leute, die die solidarischen Bemühungen aller anderen konterkarieren. Die Party machen, während andere sich zurückhalten. Salon-Revoluzzer spielen, während anderen oberhalb der Maske ständig die Brille beschlägt. Immerhin: Die Leute, die partout essen oder telefonieren müssen, nur um eine alberne Ausrede fürs Nichtanlegen der Maske zu haben, sind sichtlich seltener geworden. Und würden die Raucher am Kaufinger Tor einfach zur Rückseite der Passage gehen, wäre der Maskenpflicht Genüge getan.

Das Anstehen vor den Geschäften nehmen viele geduldig in Kauf. Es wird wohl ohnehin auch nach Ende des Lockdowns eine Weile erforderlich bleiben. Dafür ist es nach Passieren des Eingangs wie in diesem Sommer im Biergarten: angenehm viel Platz. Das gilt nicht für die 18er-Tram gen Schwanseestraße, die gerade am Stachus losfährt. Das Abstandsgebot, das ist das Problem seit Beginn der Pandemie, kann in öffentlichen Verkehrsmitteln eigentlich nur dann eingehalten werden, wenn sie kaum einer nutzt. Ansonsten gilt auch hier: Macht man die Dame auf dem Nebensitz aufs "Vergessen" der Maske aufmerksam? Ist es überhaupt angemessen, den Nebensitz zu besetzen?

Auch mit Disziplin klappt das Abstandhalten nicht immer

In Corona-Zeiten verstärken sich Probleme, die es auch sonst gibt: unterschiedliche Auffassungen, welche Distanz zu den Mitmenschen die richtige ist. Das ist bekanntlich höchst subjektiv. Dass man nicht ausdauernd den Atem des Hintermanns im Nacken spüren möchte, ging den meisten Leuten schon vor der Pandemie so. Auch in Bussen und Bahnen, das fällt auf, sind die meisten Münchner ziemlich diszipliniert - mehr als die Berliner jedenfalls. Selbst die Halbmast-Maskenträger, die offenkundig Interpretationsspielraum beim Definieren der Nase sehen, sieht man jetzt nicht mehr so oft.

Abends in den Straßen des Westends: Noch sind die Restaurants und Kneipen gefüllt. Nicht gerade, als herrsche Torschlusspanik, aber das kann ja am Wochenende noch kommen. Am Mittwochabend haben sich ein paar Unverdrossene vor dem "Ça va" sogar noch an die Tische im Freien gewagt. Vor dem "La Kaz" glüht einer der raren Heizstrahler. In den warm erleuchteten Räumen wirkt alles sehr gesittet, coole Aufenthaltsorte wie Bars oder das Gedrängel davor sind coronabedingt verwaist.

Viele Wirte haben erheblichen Aufwand betrieben, um ihren Laden pandemiegerecht offenhalten zu können. Haben teure Plexiglaswände angeschafft und Tische weggeräumt. Vergeblich, zumindest was den November angeht. Aber natürlich gibt es auch jene Vorfälle wie den in einem Haidhauser Lokal, wo sich eine allzu große Geburtstagsfeier einfach auf mehrere Tische verteilt hat, um die maximale Personenzahl nicht zu überschreitem. Nebst ausgiebigem Umarmen und vielfachem Platzwechsel, weil ja jeder mit jedem mal reden muss. Beschwert hat sich darüber keiner. Weder der Wirt, noch die anderen Gäste.

Zumindest in den nächsten vier Wochen ist das nun nicht mehr möglich. Und es gilt, was schon gegen den Frust in den Osterferien geholfen hat: 2020 ist einfach anders als andere Jahre, man wird sich lange erinnern an jene häuslichen Novemberabende mit auf eigenem Geschirr servierten Restaurantspeisen. Klar ist aber auch: 2021 braucht es das nicht noch einmal.

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Quelle:
SZ vom 31.10.2020
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