Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: München erschwinglich:App zur Wunderbox

Lesezeit: 3 min

Günstig essen mit gutem Gewissen - doch das geht: In virtuellen Börsen werden Lebensmittel angeboten, die gerettet werden wollen, und zahlreiche Kantinen locken mit besonderen Angeboten.

Von Katrin Kurz

"Herzhafte Ciabatta warten darauf, von Dir gerettet zu werden", zeigt die App an, sobald man den grünen Punkt auf der Stadtkarte drückt. So sehen also Heldentaten in neuen Zeiten aus: Zuhause bleiben, Abstand halten, Semmeln retten.

Hinter der Karte, dem grünen Punkt und der ambitionierten Botschaft steckt das Start-up "Too Good to Go" - zu gut, um weggeworfen zu werden. Drei dänische Studenten sahen es 2015 als ihre Mission, frisches, aber übrig gebliebenes Essen vom Tage zum günstigen Preis weiterzuvermitteln. Die Idee einer virtuellen Rettungs-Börse für reales Essen war geboren. In München haben sich seit 2016 rund 200 Lokale dem Modell angeschlossen, laut dessen Angaben wurden seitdem 275 000 Portionen Essen vermittelt.

Claudia Buchmaier vor ihrem Imbisswagen Minna Thiel...

...und Chrissi Holzmann in ihrem Unverpackt-Laden.

Das Heartbeet bietet verpackte Bowls zum Mitnehmen an.

Wie funktioniert diese vermeintliche Rettungsaktion per Knopfdruck? Per Umkreissuche findet der App-Nutzer Restaurants, Imbiss-Läden oder Supermärkte im Lieblings-Viertel, die zu beinahe jeder Tageszeit eine sogenannte "Magic Box" zur Abholung anbieten. Ein wenig Experimentierfreude vorausgesetzt, bucht und bezahlt man diese für drei bis vier Euro direkt über die App, ein Preisnachlass von rund 70 Prozent wird dem Nutzer versprochen. Unter den Partnerlokalen tummeln sich neben großen Bäckereiketten zunehmend inhabergeführte Cafés, Restaurants oder Imbiss-Läden.

Im Kuko zum Beispiel, benannt nach dem Esperanto-Wort für Kuchen, steht die 33-jährige Veronika Geiger hinter der Theke. Seit gut einem Jahr bietet die gelernte Buchhändlerin neben Fairtrade-Waren auch Selbstgebackenes, warme Tagesgerichte und Frühstück an. Ihr Laden-Café soll Interkulturalität und Nachhaltigkeit vermitteln. Die übrig gebliebenen Portionen ihres Chili-sin-Carne oder Chai-Cheesecake über eine App vor der Biotonne zu bewahren, "passt ins Konzept und beruhigt das Gewissen", findet sie.

Auch Chrissi Holzmann steht hinter dem Konzept. Viele Produkte in ihrem Unverpackt-Laden "haben definitiv noch einen Platz auf unseren Tellern verdient", sagt sie, selbst wenn das Mindesthaltbarkeitsdatum bald endet. Die preisbewussten Reste-Retter, die bei ihr eine Box buchen, kauften zum Teil sowieso bei ihr ein: "Viele haben ohnehin schon ein ganz anderes Bewusstsein für Lebensmittel, Verpackung und Nachhaltigkeit", stellt die Unternehmerin fest, "da würde auch niemand mit einer Einwegmaske kommen." Auf den 45 Quadratmetern ihres Ladens ist kein Fitzelchen Plastik zu finden. Lebensmittel, Haushaltsartikel und praktisches Allerlei sind in großen, sauber polierten Glas- und Edelstahlgefäßen verwahrt. Mit entschleunigter Gelassenheit bestaunt man Dinkelmehl, Langkornreis oder Hefeflocken wie Museums-Exponate.

Samstag, 15 Uhr: Die 17-jährige Clarissa ist Stammgast und holt kurz vor Ladenschluss ihr online gebuchtes Päckchen ab. Heute steckt sie Bio-Äpfel, frische Kräuter, Hafermilch und Heumilch-Butter in ihren Rucksack. Bezahlt hat sie drei Euro, der normale Warenwert wäre das Dreifache.

Doch auch ohne App und Wunder-Box lassen sich Speise-Angebote mit Win-win-Effekt finden. Auf dem weiten Feld zwischen Ägyptischem Museum und den Pinakotheken zum Beispiel, auf dem die Hochschule für Fernsehen und Film in dem länglichen Glas-Beton-Bau zu Hause ist. Claudia Buchmaier organisiert dort seit rund sieben Jahren die Cantina Conviva, einen inklusiven Betrieb der Cooperative Beschützende Arbeitsstätten. Rund 16 Angestellte sind für Küche und Service zuständig, die Hälfte davon lebt mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung oder leidet an einer seelischen Beeinträchtigung. Bis vor einigen Monaten konnten sich externe Gäste unter die Studenten an die Mensa-Plätze mischen, doch Corona hat das Bild verändert: Das liebevoll ausgebaute Minna Thiel und ein bemalter, mit Lichterketten verzierter Imbisswagen vor der Hochschule dienen nun als Anlaufstellen.

In umweltfreundlichen Mehrweg-Schalen wird dort das Kantinen-Menü zwischen 11.00 und 13.30 Uhr zur Mitnahme angeboten, für 1,70 bis 3,40 Euro gibt es an diesem Tag Linsen-Kokos-Suppe, Fenchel-Risotto oder Marokkanisches Gemüse. Alle Zutaten kommen von regionalen Lieferanten, gekocht wird täglich frisch, vorzugsweise vegetarisch.

Am späteren Abend blinkt es bei Heartbeet in Haidhausen noch grün auf der App-Karte, was selten ist, wie routinierte Überraschungstüten-Jäger wissen. Die Zauber-Schachtel für vier statt zehn Euro entpuppt sich als Power-Wakame-Sweetpotatoe-Bowl. Ihr scheinbares Manko ist, dass sie falsch "gebaut" wurde, also Zutaten außerhalb der Beschreibung kombiniert wurden. Bevor nun alles wieder auseinanderklamüsert wird, gibt es die ausgemusterte Box lieber über "Too Good to Go". Gegrillte Süßkartoffeln, Chili-Zitronen-Brokkoli und Belugalinsen haben sich hinein verirrt.

Und ein selbst-kreierter Tofu aus Kichererbsen, der saftig und würzig schmeckt, und jede bekannte Ausprägung des faden Soja-Schwamms um Längen schlägt. Dass Küchenmeister Peter Krauß bis vor Kurzem gemeinsam mit Fritz Schilling auf Sterne-Niveau gekocht hat, lässt sich nicht leugnen. Was wäre sonst mit den namenlosen Bowl-Bauteilen passiert? "Im Zweifel unter den Mitarbeitern verteilt", gibt Krauß an. Abzüglich der Provision an den App-Betreiber bleiben ihm unterm Strich zwei Drittel des Verkaufspreises. Gewinn macht er dabei kaum mehr.

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Quelle:
SZ vom 19.10.2020
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