Süddeutsche Zeitung

Wirtschaft in München:Es lebe die Innenstadt!

Lesezeit: 3 min

Die Agenturgruppe Avantgarde will eine führende Rolle dabei spielen, das Einkaufen neu zu erfinden. Ihre Chefs sind überzeugt: Die meisten Geschäfte wird es in zehn Jahren nicht mehr geben - dafür aber viel Neues.

Von Catherine Hoffmann

Viele Online-Händler machen in der Pandemie das Geschäft ihres Lebens. Andere dürften auf der Strecke bleiben: Der Handelsverband Deutschland (HDE) befürchtet das Aus für Tausende von Geschäften, vor allem die innerstädtischen Händler litten unter den Nachwirkungen von Corona. "Alles muss raus!" oder "Wir müssen leider schließen" - Ankündigungen wie diese sieht man jetzt häufiger in den Schaufenstern.

Droht den Einkaufsstraße ein Long-Covid-Syndrom? Müssen die Städte sogar das Sterben der Shopping-Meilen fürchten? "Das wird nicht passieren. Unsere Innenstädte haben eine Zukunft", sagt Martin Schnaack. "Aber nur, wenn Händler die Chance für einen mutigen Neuanfang nutzen, statt nostalgisch an ausgedienten Konzepten festzuhalten." Schnaack will mit seiner 1985 gegründeten Münchner Agenturgruppe Avantgarde eine führende Rolle dabei spielen, das Einkaufen neu zu erfinden.

Er war gerade mit der Schule fertig, da rief er die Münchner Modemesse "Avantgarde" für junge Designer ins Leben, die Der Spiegel einmal als "Deutschlands schrillste Modemesse" bezeichnet hat. Daraus entwickelte sich die heutige Unternehmensgruppe mit rund 200 Millionen Euro Umsatz und 700 Beschäftigten.

Inzwischen führt Schnaack die Geschäfte gemeinsam mit Marc Schumacher, der im Sommer 2021 Co-Chef der Agenturgruppe wurde. Schumacher hat in Marketing promoviert und unter anderem bei Hugo Boss, Breuninger und Tom Tailor gearbeitet. Zuletzt war er Managing Partner bei der Liganova Group, die Marken- und Einkaufserlebnisse konzipiert und umsetzt. Gemeinsam will das Duo an der Spitze des Unternehmens den Strukturwandel im Einzelhandel nutzen, um zu wachsen.

"Die meisten Geschäfte, die wir heute in der Innenstadt sehen, wird es dort in zehn Jahren nicht mehr geben", sagt Schumacher. Die Probleme seien gewaltig - und reichten weiter zurück als bis zum Ausbruch der Pandemie. "Der stationäre Einzelhandel ist seit Jahrzehnten schon ein angespanntes Geschäftsmodell: personalintensiv, teuer durch Innenstadtlagen, Ladenausbau und Lagerhaltung", sagt Schumacher.

Der Auftritt der E-Commerce-Player habe es nicht einfacher gemacht. Die Ladengeschäfte könnten den Wettbewerb mit Online-Shops großer Marken und Plattformen wie Amazon oder Zalando nicht gewinnen. Im Internet sei alles verfügbar, rund um die Uhr, ohne großen Aufwand. "Die Digitalisierung hat unzählige Industrien massiven Veränderungen unterworfen", sagt Schumacher. "Sie macht vor dem stationären Einzelhandel nicht Halt."

Die Pandemie wirke wie ein Brandbeschleuniger. Menschen, die noch nie im Internet eingekauft haben, nutzen plötzlich die neuen Angebote und finden sie gut. Das habe eine ungeheure Dynamik entwickelt. Eine Verhaltensänderung, die ohne Pandemie noch Jahre gedauert hätte, wurde in kürzester Zeit vollzogen. So wurden dem Einzelhandel mehrere Jahre Anpassungszeit genommen.

Die Folgen sieht man auch am Immobilienmarkt. "In Hamburg, Berlin, Düsseldorf gibt es dauerhaften Leerstand, auch in 1A-Lagen", sagt Schumacher. "Vermieter müssen an vielen Stellen Kompromisse eingehen, auch München ist längst zum Mietermarkt geworden." Schnaack und Schumacher sehen darin eine Chance, die Innenstadt als Marktplatz neu zu beleben. "Wenn heute vom Marktplatz die Rede ist, denken wir automatisch an Digitalplattformen wie Amazon oder Ebay", sagt Schnaack. "Der stationäre Handel muss sich diesen so emotional besetzten Begriff schnellstens wieder zurückerobern." Der Marktplatz ist für ihn ein Ort wie der Viktualienmarkt: Die Menschen kommen nicht nur zum Einkaufen, sondern auch um sich auszutauschen.

Beispiele aus den USA und Kanada zeigen, wie sich Einkaufspassagen in lebendige Orte verwandeln

Über Jahre haben Ketten die Innenstädte geprägt, Zara, H&M, Douglas, die sich horrende Mieten leisten konnten, das Stadtbild war monoton. "Künftig wird die Fußgängerzone vielfältiger und lokaler sein, viele Filialisten wird es dort nicht mehr geben", davon ist Schnaack überzeugt. Große Leerstände sieht er nicht, aber günstigere Mieten. Das schaffe Raum für Dienstleister und Handwerk, fürs Wohnen und Arbeiten im Herzen der Stadt und für neue Unterhaltungsangebote.

Beispiele aus den USA und Kanada zeigten, wie sich Einkaufspassagen und Warenhäuser in lebendige Orte verwandeln ließen. Neben Läden und Gastronomie finde man dort zum Beispiel Gesundheitszentren der örtlichen Universität, E-Sport-Lounges, Fitnessstudios. Das Kaufhaus der Zukunft könnte so aussehen: "Auf dem Dach ein kleiner Golfplatz, auf der Etage drunter eine Tagesklinik, darunter eine Ebene zur Begegnung von alten und jungen Menschen rund um das Thema Bildung", sagt Schnaack. "Dann gibt es eine Etage mit einem rein Münchner Angebot, wo man Manufakturen wie die des Bäckers Julius Brantner findet." Lokalkolorit sei heute wichtig.

Diese Art des Präsenzhandels biete die Chance, den Algorithmus zu durchbrechen. "Wir leben in einer komplett optimierten, digitalen Welt", sagt Schumacher. "Wenn du sagst, ich will nix, ich brauch nix, ich will überrascht werden, geht das nur noch außerhalb des Netzes." Dort ließe sich noch das Unerwartete entdecken.

Selbstverständlich bleibe die Innenstadt auch für die großen Markenhersteller wichtig. Gute Beispiele seien Adidas und Nike mit ihren Stores im Zentrum großer Städte. "Da geht es nicht darum zu verkaufen, sondern, dass ich Dinge anprobieren und in die Hand nehmen kann, dass ich eine ganze Markenwelt erlebe", sagt Schumacher. "Das werden andere Marken auch machen." Der Shop wird zum Showroom - auch das sei eine Antwort auf die Frage, wie die Fußgängerzone morgen aussieht.

Trotz neuer Ideen - noch ist vieles offen. Mit etwas Glück werden die Innenstädte zum Labor, in dem frische Konzepte erprobt werden. Und vielleicht erfüllt sich der Wunsch vieler Verbraucherinnen und Verbraucher nach mehr regionalen Waren, aber auch nach der Bequemlichkeit des Einkaufs vom Sofa aus, nach Nähe von Wohnen, Arbeit, Konsum, Unterhaltung und persönlichen Kontakten.

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