Süddeutsche Zeitung

Förderung von Grundschülern in München:Das schnitzende Klassenzimmer

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Längst nicht alle Grundschulen in der Stadt haben eigene Sozialpädagogen, die zusätzlich zum Unterricht unterstützen. Anders an dieser Schule in Bogenhausen: Was dort jenseits von Lesen, Rechnen und Schreiben gelehrt wird.

Von Sophia Coper

Um sich das Alpaka vorstellen zu können, braucht es noch etwas Fantasie: Petar hat es trotzdem schon mal signiert. In großen Lettern prangt sein Name auf dem Holzstück, stolz blickt der Viertklässler auf das Kunstwerk, an dem er gerade arbeitet. "Die Umrisse sind fertig, jetzt muss ich noch ausmalen", erklärt der Zehnjährige und entschuldigt sich freundlich, aber bestimmt: Die Farbe rühre sich nicht von allein an.

Hier an der Grundschule an der Ruth-Drexel-Straße in Bogenhausen hat man sich ein Kunstprojekt ausgedacht, um den Zusammenhalt in den Klassen zu stärken. Ruhig ist es in der Werkstatt, statt Stimmen wirbeln Holzspäne durch die Luft. Die Schülerinnen und Schüler der 4b arbeiten unter der Anleitung einer Bildhauerin, Martina Kreitmeier, die extra für diesen Tag engagiert wurde. Aus wuchtigen Holzstücken schnitzen sie ihr Lieblingstier, neben Petars Alpaka entstehen gerade Hasen und Hunde.

"Die Idee war es, dass die Kinder etwas mit ihren Händen erschaffen und lernen, länger am Ball zu bleiben", erklärt Martina Dürmeier, warum sie dieses Projekt hier machen. Dürmeier ist seit 2023 Sozialpädagogin an der Grundschule, gemeinsam mit ihrer Kollegin Tatsiana Ganske hat sie die Aktion in die Wege geleitet. Für 630 Schüler und Schülerinnen bieten die beiden Frauen parallel zum Unterricht Unterstützung an: Einzelgespräche oder regelmäßige Klassenaktionen, bei denen nicht Rechnen oder das Alphabet, sondern das tägliche Miteinander geübt werden soll. So wie jetzt beim Schnitzen mit der Bildhauerin.

In der Klasse 4b haben 80 Prozent der Schülerinnen und Schüler eine Migrationsgeschichte. Es gibt türkische, serbische, kroatische, polnische und arabischstämmige Kinder. Auch zwei Ukrainerinnen sind dabei. In München ist eine so bunt gemischte Klasse keine Besonderheit mehr: "Eine stark heterogene Schülerschaft ist keine Ausnahme, sondern die Regel", sagt Bettina Betz. Sie ist Leiterin des Staatlichen Schulamts in München, das schulaufsichtlich für das Personal und den Unterricht an Grund- und Mittelschulen in der Landeshauptstadt zuständig ist. "Es variiert je nach Stadtviertel, aber insgesamt weisen 57,2 Prozent unser Grundschüler und -schülerinnen einen Migrationshintergrund vor", so Betz.

Die vielen Nationalitäten sind lediglich eine von vielen Herausforderungen an den Münchner Schulen: Es gibt unterschiedliche Familienkonstellationen, intakte und zerstrittene Elternhäuser, verschiedene ökonomische Hintergründe, soziale Probleme. "Wir merken stark die Nachwirkungen der Pandemie", berichtet Sozialpädagogin Dürmeier. "Die sozialen Kompetenzen haben deutlich gelitten. Vielen fällt es schwer, Kontakte zu knüpfen und zu halten."

Hinzu komme der Einfluss von sozialen Medien und digitaler Beschallung. Davor seien auch Grundschulkinder längst nicht mehr gefeit. "TikTok-Challenges animieren zu gefährlichen Verhaltensweisen, verzerrte Schönheitsideale prägen die Selbstwahrnehmung und die allgemeine Aufmerksamkeitsspanne leidet enorm", sagt Dürmeier. Auch die Krisen der Welt wirken sich auf die Schülerschaft aus. "Die Kinder spüren die Veränderungen, aber können sie nicht einordnen. Sie sind unruhig und rastlos", schildert die Pädagogin ihre Beobachtungen.

Sozialarbeiterinnen sollen deshalb unterstützen. Bisher tun sie das an der Hälfte der 142 Münchner Grundschulen. Weitere sollen dazukommen, sagt Bettina Betz vom Staatlichen Schulamt. "Geld ist da, aber es finden sich keine Leute."

An der Grundschule in der Ruth-Drexel-Straße gibt es zwei Sozialpädagoginnen. Für das Kunstprojekt haben sie die Bildhauerin Martina Kreitmeier engagiert. Das Schnitzen und Bemalen der Holzstücke habe gleich mehrere positive Effekte, sagt die Künstlerin: "Es ist ein kreativer Prozess, bei dem die Kinder nicht einfach auf Rückgängig klicken können." Wenn etwas misslinge, müssten sie überlegen, wie das gewünschte Ergebnis doch noch entstehe.

Die Kinder sehen sofort die Konsequenzen ihres Handelns und üben sich gleichzeitig im selbständigen Arbeiten. "Ich steuere nicht alle ihre Handgriffe, sondern ermutige sie, selbst Entscheidungen zu treffen", sagt Kreitmeier. "Außerdem helfen sich die Schüler und kommunizieren dadurch wohlwollend miteinander." Das Schnitzen und Malen über fünf Stunden hinweg trainiere zudem die Aufmerksamkeitsspanne. Schulleiterin Pia Homp ist überzeugt von dem positiven Mehrwert des Projekts. "Die Kinder haben zugleich allein und als Gruppe etwas erschaffen. Von einem gestärkten Gemeinschaftsgefühl und einer verbesserten Konzentrationsfähigkeit profitiert letzten Endes auch der Unterricht."

Zurück zur 4b im Werkraum: Während zwei Mädchen sich im Hintergrund über einen Hasen beugen und die Farbauswahl diskutieren, ist Petar bereits selbstbewusst am Pinseln. Langsam nimmt das Alpaka Form an. "Mir macht das sehr viel Spaß", sagt der Grundschüler, "endlich mal keine Hausaufgaben."

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