Süddeutsche Zeitung

Alte Beschriftungen:Wenn Fassaden Geschichten erzählen

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Ein Milchladen wurde zum Fotografenbüro, eine Gaststätte zu einer Kita: An manchen Häusern prangen Beschriftungen, die längst nicht mehr aktuell sind. Was den Charme dieser Überbleibsel aus einer anderen Zeit ausmacht.

Von Anna Hoben

Moment, irgendwas stimmt da nicht. "Butter Milch Käse", steht an dem Schaufenster des kleinen Ladens in der Unteren Weidenstraße in Untergiesing, und: "Molkereiprodukte". Was man allerdings nicht sehen kann, wenn man einen Blick durchs Fenster wirft - genau: Butter, Milch oder Käse. Stattdessen: Bücher, moderne Kunst, Designerstühle.

"Hand Werk Kunst" heißt der kleine Laden, das sieht man beim zweiten Blick auf das Schaufenster. Es ist ein Phänomen, das einem beim Gang durch die Stadt immer wieder auffällt: Schriften an Hausfassaden, die auf etwas verweisen, das gar nicht da ist - nicht mehr. Ein Thai-Massagesalon, über dem "Metzger" steht. Eine Schmuck-Manufaktur, die augenscheinlich für "Obst" und "Gemüse" wirbt. Oder ein Büro von Fotografen, über dem in schnörkellosen Lettern nur ein Wort steht: Milch.

Ein Anruf bei Sebastian Arlt. Vor etwa einem Jahr ist der Fotograf in das Büro gezogen, das er sich mit vier weiteren Kollegen und einem Webdesigner teilt. Müsse schon länger her sein, dass da ein Laden für Milchprodukte gewesen sei, sagt er. Dass sie die Schrift entfernen, habe nie zur Debatte gestanden. "Wir fanden das alle super." Ihm gefällt, dass man sieht, was da mal war. "Außerdem ist es schön geschrieben und schaut gut aus."

Bevor seine Bürogemeinschaft einzog, hatte der Münchner Getränkehersteller Aqua Monaco hier seinen Sitz, davor war ein Modelabel drin. Während des Renovierens - sie haben viel Arbeit in den Raum gesteckt - legten die Fotografen die Originalfliesen des Milchladens frei. All das sieht man von draußen freilich nicht. Man sieht auch nicht, was sich jetzt hinter dem Schaufenster verbirgt. Einige Topfpflanzen, so neutral, wie es neutraler kaum geht; eine kleine blaue Gießkanne; ein "Fake-WM-Pokal" in der linken Ecke. Arlt lacht. All das vor einer unauffälligen weißen Gardine - eine perfekte Fassade. Und mit der "Milch"-Ansage über der Tür auch perfekt verwirrend.

Das ist es wahrscheinlich, was den Charme dieser Überbleibsel aus einer anderen Zeit ausmacht. Es sind irritierende Momente, die den Passanten kurz aus dem Alltag reißen und die Geschichte des Hauses sichtbar machen. Eine Vergangenheitsschicht, die in diesen Fällen nicht unter der Gegenwartsschicht liegt, sondern direkt daneben - und die sich auf lässige Weise mit ihr vermischt. Palimpseste, bei denen die ursprüngliche Schrift sichtbar geblieben ist. Sie zeigen, wie Räume in einer Stadt mit der Zeit neu, anders genutzt und mitunter auch gentrifiziert werden. In der Zenettistraße etwa kann man sich ausmalen, wie das einst gewesen sein könnte, als die Nachbarn sich jeden Morgen hier ihre Milch geholt haben.

Vom Schlachthofviertel nach Haidhausen, von der Zenettistraße in die Kirchenstraße. Dort kann man sich vorstellen, wie es war, als sich in dem Haus mit der schwungvollen grünen Aufschrift "Zur alten Kirche" tatsächlich noch ein Wirtshaus namens "Zur alten Kirche" befand, das, man ahnt es schon, gegenüber der alten Kirche stand. Ist noch gar nicht mal so lange her, wie man von Johann Schlehhuber erfahren kann, der immer mit der Kirche verbunden war und sich in dieser Gegend bestens auskennt, weil er seit 76 Jahren hier wohnt - seit seiner Geburt also.

Etwa zehn Jahre sei es her, dass das Wirtshaus verschwunden ist, erzählt er. Zuletzt sei da ein türkisches Lokal gewesen, das zur Fußballweltmeisterschaft eine große Leinwand aufgebaut habe. "Da sind wir dann vom Pfarrfest aus rübergegangen und haben geschaut, wie es steht."

Schlehhuber kennt auch noch Anekdoten von ganz früher. Aus der Zeit, als das Haus gebaut wurde, um 1900. Auch damals sei da ein Wirtshaus gewesen, und man erzähle sich, die Männer seien sonntags statt in die Kirche erst einmal zum Frühschoppen gegangen. Wenn die Predigt vorbei war, läutete der Mesner eine Glocke, und dann gingen die Männer rüber zu ihren Frauen in die Kirche. Heute ist in dem Haus in der Kirchenstraße die deutsch-englische Kindertagesstätte "Little Daisies" untergebracht, die einem finnischen Erziehungskonzept folgt.

Dass an einem Haus noch eine alte Werbeschrift prangt, könne mit dem Denkmalschutz zu tun haben, sagt Harald Scharrer von der städtischen Denkmalschutzbehörde. In einigen Fällen wolle aber auch einfach der Hauseigentümer die Schrift erhalten.

Manchmal passt die Vergangenheit sogar ganz gut zur Gegenwart, weil die Nutzungsarten eine gewisse Verwandtschaft aufweisen. Zum Beispiel, wenn das alte Schild über einem neuen Café verkündet: "Lebensmittel". Oder wenn über der Bar Centrale noch die Überreste der alten Konditorei geblieben sind, die jedoch ein paar Buchstaben lassen musste: "Ko--itorei Café Schm-d".

Einen Kilometer entfernt, am Stachus, ließ die Firma Osram vor Kurzem ihre Reklameschrift entfernen. Es folgte: ein nostalgischer Aufschrei, der deutlich machte, wie sehr mancher an den Schriftzügen aus der Vergangenheit hängt.

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Quelle:
SZ vom 05.10.2019
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