Süddeutsche Zeitung

Frauen helfen Frauen:"Viele Frauen schämen sich, um Hilfe zu bitten"

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An einem geschützten Ort bietet das Evangelische Hilfswerk Frauen in Not Unterkunft, Rat - und Hoffnung.

Von Sabine Buchwald

Vieles, was in ihrem Leben passiert ist, wollte sie eigentlich nie. Nicht den Mann, nicht die Kinder und schon gar nicht die Aufenthalte in der Psychiatrie. "Wenn ich damals so mutig gewesen wäre, wie ich heute bin, dann hätte ich am Standesamt Nein gesagt", sagt die Frau mit dem leuchtend roten Pullover, die sich von Mann und Kindern verabschiedet hat und nach vielen Monaten tiefster Depression von Zukunftsplänen spricht. Sie selbst nennt es "Laufen lernen", was sie gerade erlebt.

Sie kommt an einem kalten Märzabend in Sandalen in den Besprechungsraum des Schwabinger Altbaus, in dem ein Zimmer ihr neues Zuhause geworden ist. Das Haus in der Heßstraße 12 gehört zu dem Evangelischen Hilfswerk, der Teil der Diakonie München und Oberbayern ist. Es ist ein geschützter Ort, an dem Frauen anderen Frauen helfen. Die Bewohnerin mit dem roten Pulli trägt keine Strümpfe, an beiden Fersen kleben Pflaster. Sie habe sich in ihren Ballerinas Blasen gelaufen, sagt sie. Diese nackten Füße mit den verdeckten Wunden, sie sind wie ein Symbol für ihre Situation. Sie will darüber sprechen, weil sie anderen Frauen Mut machen möchte, Hilfe anzunehmen und früher als sie selbst auf ihr Bauchgefühl zu hören. Aber ihren Namen nennen möchte sie nicht. Deshalb wird sie in dieser Geschichte Elisabeth Glaser heißen.

Sie erzählt eloquent und ruhig. Sie wirkt sehr gefasst. 46 Jahre ist sie alt, kommt aus dem Norden Deutschlands, hat einen kaufmännischen Beruf gelernt, zwei Kinder bekommen mit einem Mann, den sie mit Donald Trump vergleicht: "Beides Narzissten." Glaser hat früher in einer schicken Wohnung gelebt, acht Jahre alleinerziehend, voll berufstätig, weil "Leistung bringen in ihrer Familie das Wichtigste war". Jedes zweite Wochenende hatte sie eine vermeintliche Verschnaufpause, wenn die Kinder zum Vater gingen. "Danach musste ich sie immer wider aufbauen." Irgendwann ertrug Glaser ihr Leben nicht mehr. "Auf Frauen lastet ein enormer Druck", sagt sie. Sie habe sich diesem Klischee von Familie und Karriere gebeugt. Was sie selbst eigentlich wollte, habe sie nie jemand gefragt.

Nach München kam Elisabeth Glaser, weil ihr eine alte Liebe eine Veränderung versprach. Sie ist bei ihm eingezogen. Es hat nicht funktioniert. Als sie nach Suizidversuchen in psychiatrischer Behandlung war, viele Monate in einer Klinik bleiben musste, meldete der Mann sie offiziell von seiner Wohnung ab. Elisabeth Glaser wurde obdachlos. Ihre Möbel und persönlichen Sachen waren eingelagert. Sie konnte die Gebühr nicht mehr zahlen. "Jetzt besitze ich nicht mal mehr ein Bild von meinen Kindern", sagt sie. Kontakte zu Freunden oder zu Verwandten in ihrer Heimatstadt habe sie keine mehr. Sie wolle das nicht. Noch nicht.

Doch Elisabeth Glaser hat Glück gehabt. Ihren Unterhalt zahlt jetzt das Job-Center und sie bewohnt eines der 22 Zimmer in der Heßstraße 12. Mit einem Bett, einem Tisch, einem großen Schrank. Glaser ist begeistert, dass sie hier sogar ein kleines eigenes Bad hat. "Mehr brauche ich im Moment nicht, um zur Ruhe zu kommen. Materielle Dinge sind irgendwann nicht mehr wesentlich."

Das alte Haus hinter der neuen Pinakothek war schon für viele Frauen ein Dach über dem Kopf. Hier hatte in den Vierzigerjahren die "Mitternachtsmission" der Matthäuskirchengemeinde ihren Sitz. Damals sprach man von "gefallenen Frauen", die hier unterkamen, die dadurch weg von der Straße, weg von der Prostitution kommen sollten. Hier befand sich auch das "Biermädchenheim", das vor allem Jüngeren, die im Gastgewerbe arbeiteten, Hilfe bot. Die Mauern dieses Altbaus haben sicher viel Elend und Ungerechtigkeit gesehen, denkt man, wenn man das Treppenhaus mit dem geschwungenen hölzernen Handlauf hinaufblickt. 1966 wurde der Evangelische Beratungsdienst gegründet. Hier befinden sich heute im Hochparterre seine Büroräume. Monika Schmidt, 49, ist die Leiterin für das "Stationäre Wohnen", hier steht ihr Schreibtisch, neben dem ihre FFP2-Masken zum Trocknen und Wechseln hängen.

Sie ist Sozialpädagogin sowie systemische Familien- und Paartherapeutin. Sie unterrichtet mit einem Lehrauftrag an der Hochschule München, bildet die nächste Generation Studentinnen aus. Es sind seit Jahrzehnten überwiegend Frauen. Die Studienplätze begehrt: Sozialpädagogik ist ein Numerus-Clausus-Fach in München. Zu Frauen wie Schmidt sagt Elisabeth Glaser: "Sie holen uns ab, wo wir stehen. Nicht eine Sekunde geben sie uns das Gefühl, minderwertig zu sein."

Schmidt leitet seit 2015 das Stationäre Wohnen des Evangelischen Beratungsdienstes. Dazu gehören noch 15 Plätze in Giesing und zwei Wohngemeinschaften für junge Frauen in Gern mit insgesamt zehn Plätzen. "Ich hatte nie das Gefühl, etwas Anderes machen zu wollen", sagt Schmidt. Während Freundinnen in ihrem Alter nach sinnstiftenden ehrenamtlichen Beschäftigungen suchten, sei sie hier voll ausgelastet. Wochenenddienste mit zwei Zwölfstundenschichten gehören dazu. Man müsse lernen, sich gut abzugrenzen, sagt Schmidt über ihren Beruf. "Wohlmeinend Nein-Sagen" heißt das im Sozpäd-Sprech. Wie das gelingt? Sie lacht und erzählt, wie eine Frau sie aus Dankbarkeit umarmen wollte und sie das "freundlich, aber bestimmt" ablehnte. Das war schon vor Corona so.

Die Sozialpädagoginnen öffnen ihre Ohren und versuchen Rat zu geben: zu Verhütung, zu Geldnöten und Schulden, zu Fortbildungen, die sie wieder auf eigene Beine bringen könnten. Sie unterstützen sie bei Behördengängen, erledigen mit ihnen die Post und geben dem Tag der Bewohnerinnen eine Struktur: Um 7.30 Uhr wird mit Klopfen an der Tür geweckt, um 21.30 Uhr eine gute Nacht gewünscht. Wenn keine Antwort aus dem Zimmer zu hören ist, machen die Sozialpädagoginnen die Tür schon mal auf.

Man schätzt, dass etwa 25 bis 35 Prozent der Obdachlosen weiblich sind. Erst mit dem zunehmenden Angebot der Einrichtungen sei deutlich geworden, wie viele Frauen betroffen sind, erzählt Schmidt. Viele kämen erst mal eine Weile bei Freundinnen unter oder bei Männerbekanntschaften. Wenn sie rechtzeitig eine Beratungsstelle aufsuchen, noch bevor sie ihre eigene Wohnung verlieren, dann versuche man diese möglichst zu halten. Am Ende komme es für das Sozialsystem wesentlich günstiger, die Mieten zu übernehmen, als einen stationären Platz zu finanzieren, sagt Schmidt. "Doch viele Frauen schämen sich, um Hilfe zu bitten."

Nicht selten ist der erste Schritt nach einer langen Leidensphase, aus dem häuslichen Umfeld rauszukommen. Kurzzeitige Angebote bieten Frauenhäuser. Von dort kann, wenn ein Platz frei ist, der Sprung ins Stationäre Wohnen gelingen. Immerhin maximal zwei Jahre können die Frauen bleiben. Die durchschnittliche Wohnzeit ist etwa ein Jahr. "Frauen, die bei uns landen, wollen etwas verändern", sagt Schmidt. "Wir unterstützen sie so gut es geht dabei." Elisabeth Glaser macht jetzt eine Weiterbildung zur Finanzbuchhalterin. "Dann suche ich mir einen Job, der zu mir passt", sagt sie.

Die junge Frau, die in der Giesinger Einrichtung bereit ist, aus ihrem Leben zu erzählen, ist 23 Jahre alt. Sie ist gebürtige Münchnerin und bei ihrer Mutter aufgewachsen. Der Vater ist kein Thema mehr. "Das Verhältnis zu meiner Mutter ist sehr eng", sagt sie, aber zusammenleben sei nicht mehr länger gegangen. "Meine Mama hat psychische Probleme." Was das im Alltag bedeutet, erzählt sie nicht. Nur, dass ihr Verhältnis toxisch sei. Wenn es schlimm wurde, hat sie bei Freunden übernachtet. Mal hier mal dort. Für die Schule lernen, das hat in dieser Zeit nicht mehr geklappt. Sie ging auf die Fachoberschule, durfte keine Klasse mehr wiederholen und flog aus dem System.

Sie wusste, dass es Hilfsangebote in München gibt. Es habe sie viel Kraft gekostet, zu den Ämtern zu gehen. Manchmal sei sie falsch beraten worden, erzählt die junge Frau mit den dunklen Locken. Seit November 2019 lebt sie nun in einer WG des Evangelischen Hilfswerks in Gern. Wie in allen Einrichtungen auch hier: feste Regeln, kein Alkohol, keine Drogen. Am liebsten möchte sie einen kreativen Beruf lernen, vielleicht Masken- oder Kostümbildnerin an einem Theater. Die Pandemie hat das alles eingeschränkt. Die junge Frau arbeitet vier Tage die Woche in einer Siebdruckwerkstatt. Das mache ihr Spaß. Sie sei super froh, dass es solche Auffangstationen gebe, sagt sie. Und dann noch, dass sie von einer kleinen Wohnung in der Nähe von der Mama träume.

"Das eigene Leben bloß nicht hintanstellen", das möchte eine ehemalige Bewohnerin in Giesing allen jungen Menschen zurufen. Ihr Vater sei gestorben als sie zwölf war. Danach habe sie ihr Leben komplett auf die Mutter ausgerichtet. Wenn ein Freund nach Hause kam, sei der torpediert worden. Zweimal zwei Jahre lebte sie mit der Betreuung der Sozialpädagoginnen. "Oft kommen Frauen in schlimme Situationen, weil sie sich ausnutzen lassen", sagt sie. "Das ist doch typisch weiblich. Man will immer alles richtig machen."

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SZ vom 08.03.2021
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