Süddeutsche Zeitung

München:Ein Salut auf das soziale Netz

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Vor 40 Jahren startete das Projekt, Alten- und Service-Zentren über die Stadt zu verteilen. Inzwischen gibt es an 32 Standorten ein breites Angebot für Senioren. Die Geschichte eines deutschlandweit einzigartigen Konzepts

Von Linus Freymark

Die wohl größte Krise in der Geschichte der Münchner Alten- und Service-Zentren (ASZ) ereignet sich zu Beginn des neuen Jahrtausends. 2003 befindet die Koalition aus SPD und Grünen im Stadtrat: Die Einrichtungen würden ihre Zielgruppe, hilfsbedürftige Menschen jenseits der 50, nicht mehr erreichen und seien deshalb nicht mehr notwendig. Das städtische Sozialreferat argumentiert dagegen. Es gibt Besprechungen, Diskussionen, Streit. Mehr als ein Jahr lang. Dann steht fest: Es geht weiter.

16 Jahre später feiern die Münchner Alten- und Service-Zentren an diesem Donnerstag ihr 40-jähriges Bestehen. Die Einrichtungen betreuen hilfsbedürftige Menschen und sind ein Treffpunkt für gemeinsame Unternehmungen, doch man findet auch Beratungs- und Betreuungsangebote vor, etwa bei Demenz oder psychischen Erkrankungen. Zudem bieten die Sozialpädagogen und die vielen Ehrenamtlichen, die sich in den Einrichtungen engagieren, präventive Hausbesuche an; sie helfen bei kleineren Tätigkeiten im Haushalt, die an sich schnell erledigt sind, viele Senioren jedoch nicht mehr alleine bewältigen können. Ziel ist es, den Menschen so lange wie möglich ein Leben im eigenen Zuhause zu ermöglichen - und sie so gut es geht am Leben im Stadtviertel teilhaben zu lassen.

32 ASZ gibt es derzeit in München, verteilt über das gesamte Stadtgebiet. Das Sozialreferat ist stolz auf das deutschlandweit einzigartige Konzept - und auf die Vorreiterrolle Münchens in Sachen Altenhilfe. "München war die erste Stadt, die das Tabuthema Alter thematisiert hat", sagt Eva Maria Huber, die Leiterin der Abteilung Altenhilfe und Pflege im Sozialreferat.

Bereits in den Sechzigerjahren befasste man sich bei der Stadt erstmals tiefergehend mit der Frage, wie man Menschen im Alter versorgen kann - und wie die Betroffenen versorgt werden wollen. In Befragungen gaben die meisten Senioren an, lieber zu Hause als im Heim gepflegt zu werden, die Stadt leitete daraus ihren Grundsatz "ambulant vor stationär" ab. Die Verantwortlichen erarbeiteten erste Pläne, 1979 schließlich wurde mit der "Konzeption zur Realisierung eines Netzes von Alten- und Service-Zentren in München" der Grundstein für die ASZ gelegt. Im selben Jahr eröffneten erste Einrichtungen in Haidhausen, Milbertshofen, Allach-Untermenzing und Thalkirchen. Unter Oberbürgermeister Georg Kronawitter wurde der Ausbau in den Achtzigerjahren weiter vorangetrieben.

Besonders an den Münchner ASZ sei deren "dezentrale Struktur und das flächendeckende Netz", sagt der langjährige Münchner Sozialreferent Friedrich Graffe. Die Einrichtungen sollten im Idealfall fußläufig oder gut mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen sein. Ebenfalls hervorzuheben sei die enge Zusammenarbeit zwischen Stadt, Wohlfahrtsverbänden und anderen Trägern. Denn die Leitlinien gibt zwar die Stadt vor, jede Einrichtung kann ihr Programm jedoch individuell gestalten und an die Bevölkerungsstruktur im Viertel anpassen. So entstünden Angebote, "die gut auf die Bedürfnisse vor Ort zugeschnitten sind".

Nach den Diskussionen um die Zukunft der ASZ 2003 erarbeitete das Sozialreferat im Jahr darauf ein Reformkonzept. Die Zielgruppe der ASZ wurde von Personen über 50 auf alle Altersgruppen erweitert, zudem übernahmen die ASZ zusätzliche Aufgaben - bei gleichbleibendem Budget. Mehr Zuständigkeiten und steigende Besucherzahlen, jedoch nicht mehr Personal. "Das war schon eine heftige Herausforderung", sagt Behördenmitarbeiterin Huber, die seit 2004 im Sozialreferat tätig ist. Der Status der ASZ in der Stadtpolitik sei seitdem jedoch kontinuierlich gestiegen. Zudem mussten die Angebote nach der Einführung der Pflegeversicherung an die veränderte Situation angepasst werden; die wachsende Zahl ambulanter Pflegedienste veränderte die Anforderungen an die ASZ.

Ob die ASZ ihre Aufgabe tatsächlich erfüllen und es vielen Senioren ermöglicht, länger zu Hause wohnen zu können, lässt sich nicht mit Zahlen erheben. Eva Maria Huber aber ist sich sicher, "dass eine Heimunterbringung in vielen Fällen hinausgezögert werden kann". Die rund 14 Millionen Euro pro Jahr, die die Stadt in die ASZ investiert, seien gut angelegt. Denn langfristig würde sich die Öffentlichkeit so viel Geld bei der Heimfinanzierung sparen.

84 000 Personen haben die Münchner ASZ im vergangenen Jahr besucht. Die Personalsituation ist nicht ganz so angespannt wie in anderen Bereichen der Pflegebranche, trotzdem sagt Huber: "Ohne unsere Ehrenamtlichen würde es nicht gehen."

Rund 3000 von ihnen unterstützen die jeweils vier fest angestellten Sozialpädagogen pro Einrichtung. Und trotzdem, so Huber, stehe München im Vergleich zu anderen Städten gut da: Die bestehenden Zentren seien fest im Stadtteil verwurzelt, im Hasenbergl, am Westkreuz und in Nymphenburg werden bereits neue Standorte geplant. Vor allem aber, sagt Huber, sei die Unterstützung der Politik da. Und deshalb ist sie sich sicher, dass sich so eine Situation wie 2003, als die Finanzierung der ASZ auf der Kippe stand, nicht wiederholen wird. "Wir können uns locker in die nächsten 30 Jahre wagen", sagt sie.

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Quelle:
SZ vom 10.10.2019
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