Süddeutsche Zeitung

Vor Gericht in München:Ein Hund, der in Neuhausen Angst und Schrecken verbreitet

Lesezeit: 3 min

Immer wieder beißt der Dalmatiner einer Ärztin zu, einem Jungen trennt er das Ohr ab, einem Mädchen einen Teil des Augenlides. Doch für Gericht und KVR ist es schwierig, ihn in den Griff zu bekommen.

Von Susi Wimmer

Wenn Irina Gerber ( Name geändert) im Viertel die Frau mit dem Dalmatiner sieht, wechselt sie instinktiv die Straßenseite. Vier Jahre ist es her, dass der Hund ihre dreijährige Tochter angefallen hat, das Mädchen hat bis heute Angst. Erst im Juli dieses Jahres musste sich die Halterin vor Gericht verantworten, weil der Dalmatiner Anfang 2021 erneut ein Kind angegangen und einen Erwachsenen gebissen hatte. Das Gericht beließ es bei einer Geldstrafe und dem erhobenen Zeigefinger.

Vor gut einer Woche schnappte der Dalmatiner dann erneut zu, biss einem Vierjährigen einen Teil des Ohres ab. Die Halterin war laut Polizei an dem Abend stark betrunken. "Das Veterinäramt sieht seit Jahren tatenlos zu", schimpft Irina Gerber. Der Hund kam ins Tierheim, dort blieb er aber nicht lange: Das KVR verfügte, dass das Tier einem Freund der Halterin anvertraut werde. "Die Besitzerin und der Bekannte haben das Tier gemeinsam vergangene Woche abgeholt", sagt Tierheim-Sprecherin Kristina Berchtold.

Es waren regelrechte Jagdszenen, die Ludwig B. (Name geändert) im Juli bei einer Berufungsverhandlung schildert. Er war mit seiner Familie an Neujahr nachmittags in Neuhausen spazieren, als am Rotkreuzplatz ein frei laufender Dalmatiner auf seinen vierjährigen Sohn losging. Der Bub erlitt einen Kratzer im Gesicht, dann riss der Hund die Kapuze des Anoraks ab.

Der 13-jährige Bruder war als erster bei dem Kleinen, wollte ihn beschützen, auch auf ihn sei der Dalmatiner losgegangen. Als Ludwig B. angerannt kam, biss ihn der Hund in den Oberarm. Die Hundehalterin, eine 56 Jahre alte Ärztin mit eigener chirurgischer Praxis, habe "total abwesend" gewirkt, "als ob sie betrunken gewesen" sei, und minutenlang nichts getan. Dann sei sie mit dem Hund in einem Hauseingang verschwunden. Ludwig B. kollabierte und musste in einer Klinik behandelt werden. "Der Hund hat schon mehrere gebissen", erzählt der Mann aus Neuhausen.

Vor Gericht behauptete die Angeklagte, die Hundeleine sei "unerklärlicherweise" aufgegangen. "Sie glauben doch nicht, dass ich an der vierspurigen Nymphenburger Straße meinen Hund laufen lasse." Vor Gericht kommt auch zur Sprache, dass das KVR bereits in den Vorjahren einen Maulkorbzwang angeordnet und diesen wieder aufgehoben habe. Nun müsse die Besitzerin ihren Dalmatiner an einer reißfesten, maximal zwei Meter langen Leine halten.

"Ihre Entschuldigung und ihre Reue kann ich nicht ernst nehmen", meinte die Staatsanwältin. In diesem Fall hätte man auch über eine Verurteilung wegen vorsätzlicher Körperverletzung nachdenken können. Das Gericht verurteilte die Ärztin wegen fahrlässiger Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 11 700 Euro. Und der Richter gab der Frau mit auf den Weg, sie dürfe den Hund nicht ausführen, wenn sie Alkohol getrunken habe, der Hund sei "wie ein gefährlicher Gegenstand".

Am Freitag, 17. September, war die Ärztin laut Polizei um 19.30 Uhr wieder unterwegs mit dem Dalmatiner und mit rund zwei Promille. Diesmal attackierte der angeleinte Hund einen vierjährigen Buben, der nach einem Sturz mit seinem Radl auf einem Metallbügel am Gehweg saß. Der Hund biss dem Buben einen Teil des Ohres ab. Passanten verständigten Notarzt und Polizei. Der Vierjährige kam in eine Klinik. Ob das Ohr wieder angenäht werden konnte, kann die Polizei nicht sagen.

Die Stadt München betreibt im Netz eine Seite mit Regeln für Hundebesitzer und auch mit einem Formular, wo Vorfälle mit Hunden gemeldet werden können. Ob und wie viele Angriffe des Dalmatiners gemeldet wurden, kann KVR-Sprecher Johannes Mayer aus Datenschutzgründen nicht sagen. Nur so viel zum üblichen Procedere: Nach einem Vorfall werden alle Beteiligten gehört, am Ende kann das KVR Maßnahmen erlassen wie Leinen- oder Maulkorbzwang, bis hin zur Untersagung einer Hundehaltung.

Nach mindestens drei Beißattacken hat das KVR im aktuellen Fall den Dalmatiner nach seinem Aufenthalt im Tierheim "weitervermittelt". Und zwar an einen Freund der ehemaligen Halterin. Die Frau und ihr Bekannter hätten den Hund fünf Tage nach dem letzten Vorfall abgeholt, sagt Kristina Berchtold. Das Tier sei sehr aufgedreht gewesen, sagt Kristina Berchtold, aber es habe sich beruhigt und im Tierheim niemanden angegriffen. Laut KVR werde überprüft, ob sich der neue Besitzer an Auflagen halte.

Irina Gerber jedenfalls bleibt bei Spaziergängen vorsichtig. 2017 hatte der Dalmatiner ihrer Tochter mit einem Biss einen Teil des Augenlides abgetrennt. "Die Narbe ist bis heute zu sehen." Der Hund war angeleint und hatte ein Band um das Maul gewickelt. Zuschnappen konnte er trotzdem. Der Dalmatiner greife im Viertel hauptsächlich Kinder, Welpen und alte, kranke Menschen an. "Allein ich weiß schon von fünf Fällen." Im Viertel werde gemunkelt, die Halterin verfüge über genügend "Vitamin B". Gerber hofft, dass sich doch noch etwas ändert. "Weil so kann es nicht weitergehen."

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SZ vom 28.09.2021
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