Süddeutsche Zeitung

Kultur-Sommer in München:Raum für Kunst

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Wie sieht der Kultursommer in München aus? Veranstalter drängen mit Programmen und Konzepten ins Freie. Allerdings gibt es da noch eine Menge offener Fragen.

Von Michael Zirnstein

Die "Frustrationskurve", wie Oliver Kaye seinen Gemütsindex derzeit nennt, gleiche einer Berg- und Talbahn. Als er jüngst von Plänen der Bundes- und Länderregierungen erfuhr, die Open-Air-Konzerte in weite Ferne rücken und zunächst auf 50 Gäste beschränken sollen, habe es ihm "den Boden unter den Füßen weggezogen", sagt der Vorsitzende des Vereins Kunstzentrat, dem Träger des Klubs Import/Export. Dort aber, in diesem Pop-Kulturlabor im Kreativquartier, stieg sein Glückspegel nun sprunghaft, als er bei einem Soundcheck nach einem Corona-stummen Winter "endlich mal wieder echte Musik bei uns" hören konnte. Und was er nun sieht, macht ihn auch happy: die neue Bühne, gestaltet von dem Kunststudenten Leonard Schulz mit klaren geometrischen Tafeln wie eine Schöner-Wohnen-Skulptur, mit Flamingo-farben lackiertem Boden dazu. "Wenn wir das machen, dann gescheit", sagt Kaye stolz, sich aber auch dessen bewusst, dass es dieses Bühnenzimmer gar nicht geben sollte. Es soll eine identitätsstiftende Kulisse speziell für Stream-Shows sein. Eigentlich hatte Kaye sich den Neustart anders vorgestellt: Das Import/Export sollte von 5. Mai an längst wieder draußen auf dem 900 Quadratmeter großen Hof vor 200 Gästen spielen.

Nun wird das Frauen-Septett SiEA am 5. Mai den ersten Monat (Konzerte, Workshops, Diskussionen, alles ausgerichtet auf "Frauen in der Musik") der Import Export "Open" eröffnen. Drinnen, ohne Gäste. Vier weitere Monate sind weitgehend geplant. Einerseits. Andererseits muss Kaye - er leiht sich dafür die Politiker-Floskel - "auf Sicht fahren". So planvoll improvisieren müssen gerade alle, die den Kultursommer mit Leben füllen wollen. Und der wird bei weitem nicht so normal sein, wie es die meisten vor einem Jahr erwarteten. Dafür wird derzeit um Geld und Genehmigungen gerungen. Nicht nur der Verband der Münchner Kulturveranstalter (VdMK) bastelt seit Wochen wieder an einem großen Bühnenprogramm unter dem offiziellen Schirm von "Sommer in der Stadt". Auch die Einzel-Initiativen, die 2020 vielen das Ausharren im angebotsdünnen München mit neuen, bunten, erlebnisorientierten Formaten versüßten, wollen heuer die für die Kultur eroberten Freiluftflächen wieder füllen - oder gar erweitern.

Etwa Simone Wittmann und Ruth Feile von "Wir in Giesing", die voriges Jahr unter dem Motto "Giesing is a Feeling" monatelang mit vielen Konzerten der lokalen Pop-Prominenz auf dem Grünspitz Tausende Gäste beglückten. Sie mussten das Konzept für ihr beliebtes "Ois Giasing"-Spektakel wegen der Beschluss- und Pandemielage mehrmals umschmeißen, momentan planen sie Konzerte jeden Freitag nicht nur am Grünspitz, sondern auch am Giesinger Bahnhof und im Kronepark.

Peter Fleming vom seit einem Jahr geschlossenen Harry Klein hatte 2020 zusammen mit den freien Techno-Gruppen "Haralds Kollektivgarten" erschaffen, eine Elektro-Outdoor-Lounge im Weißenseepark. Sie wollen heuer von 1. Juli an zusätzlich mehrere Wochen lang die Theresienwiese beschallen, inklusive Partys zum Christopher Street Day. Sie haben schon verhandelt, sich Gerüste, Zäune, Bauten, Sanitäranlagen und so weiter mit den Pionieren von "Kunst im Quadrat" zu teilen.

Dabei ist noch gar nicht sicher, ob es dieses Projekt der Stadtviertelkulturträger Glockenbachwerkstatt, Köşk und Luise unter der Bavaria überhaupt geben wird. Für viele Freunde anspruchsvoller diverser Kultur, aber auch für vorbeischlendernde Zufallsgäste war es das spannendste Angebot im Corona-Sommer '20: Eine umzäunte, doch luftige Palmen-Zitadelle, entworfen von Architekturstudenten, mit Hängematten und Fingerfarbenstühlen ohne erkennbare Anordnung, mit Eierlikör-Nachmittag für Senioren und DJ-Workshops für Jugendliche, mit bis zu fünf Konzerten täglich, und mit charmanten Abiturientinnen als Sicherheitspersonal, die die Warteschlange bespaßten. "Was gut lief, wollen wir wieder machen, und einiges mehr", sagt Matthias Weinzierl vom Kösk, aber sein Gemütsindex hängt derzeit in der Warteschleife, und das gleich doppelt. Zum einen wartet er auf die offizielle Oktoberfestabsage, und nun, da diese wohl feststeht, auf die Entscheidung, ob und von wem die freie Theresienwiese nun genutzt werden kann. Dann wäre die Frage: Wer soll's bezahlen? Die drei angrenzenden Bezirksausschüsse hätten Weinzierl signalisiert: "Wir wollen euch, aber wir haben weniger Geld." Auch vom Kulturreferat warten die Quadrat-Köpfe noch auf eine Finanzspritze für ihr Gratis-Pop-up-Open-Air. "Spätestens Mitte Mai brauchen wir ein Bekenntnis der Stadt, dann können wir konkret planen."

Beim Kulturreferat weiß man selber noch nicht, wie viel man für den Kultursommer verteilen kann. 200 000 Euro hat man aus dem eigenen Etat zusammengekratzt, 380 000 Euro bei der Bundeskulturstiftung aus dem Topf für Freiluftfestivals beantragt, man hofft auf eine Spende und die Gespräche mit dem krisenknausrigen Kämmerer. "Alles ungewiss." Bis Ende Mai sammele man alle Vorschläge beim VdMK und im Referat, dann wolle man Ideen und Budget nebeneinander legen und sehen, was sich in einem Gesamtkonzept realisieren lässt. Noch sei etwas Zeit, man plane den Kultursommer von Juli bis Oktober.

Das wäre zu spät fürs Import/Export, doch Olivers Kayes Puls bleibt ruhig. Finanziell stehe man gut da, auch wegen der städtischen Förderung für die freie Szene, sagt er, weiteres Geld habe man über lokale Stiftungen erhalten und 49 000 Euro über die Bundeskulturstiftung, auch die Stammgäste hätten gern gespendet. Nur würden sie eben mit jedem Streaming-Konzert mehr draufzahlen, sagt Kaye, "mit jeder Verzögerung und jeder neuen Regel wird es schwerer. Ich schwanke zwischen Verzweiflung und Vorfreude".

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Quelle:
SZ vom 04.05.2021
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