Süddeutsche Zeitung

Kampfmittelräumung:"Ein langer Ton bedeutet: Achtung Sprengung"

Lesezeit: 4 min

In Deutschland liegen geschätzt noch Zehntausende Tonnen Blindgänger im Boden. Doch es gibt zu wenig Fachleute, die sich mit Kampfmittelräumung auskennen. Eine neue Zusatzausbildung soll das ändern.

Von Thomas Becker

High Noon im Steinbruch. Die Sonne steht an diesem Tag im Schotterwerk der Firma Max Bögl in Wiesenhofen bei Beilngries noch immer hoch, die zwei Dutzend Helmträger schwitzen schon nach den ersten Worten von Richard Lankes. Dabei wird es hier gleich noch viel heißer werden, ein paar Hundert Grad heißer sogar. Lankes, der Mann mit dem blauen Helm, ist nämlich nicht nur unüberhörbar Oberpfälzer und Stabsfeldwebel am Ausbildungszentrum Pioniere in Ingolstadt, sondern auch Sprengberechtigter beim "Sprengverein in Bayern e.V.". Und als solcher wird er es nun knallen lassen: bei der Sprengvorführung im Rahmen der Ausbildung zum Fachplaner in Kampfmittelräumung.

Etwa tausend deutsche Städte und Orte wurden im Zweiten Weltkrieg bombardiert, 1,4 Millionen Tonnen Bombenmaterial über Deutschland abgeworfen, 100 000 Tonnen Blindgänger liegen noch im Boden. 5000 Bomben werden jährlich geräumt, immer wieder gibt es Tote und Verletzte durch Blindgänger. Wenn es um Kampfmittelräumung geht, ob bei großen Bauvorhaben oder beim Flächenrecycling, ist Ingenieurs-Know-how gefragt. Das Problem: Es fehlen Fachleute. Deshalb haben die Bundeswehr-Uni München, genauer gesagt das Institut für Bodenmechanik und Grundbau, in Kooperation mit der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben und weiteren Partnern eine postgraduale akademische Zusatzausbildung initiiert: den "Fachplaner/-in Kampfmittelräumung".

"Hier findet keine Ausbildung von Feuerwerkern nach Paragraf 20 Sprengstoffgesetz, umgangssprachlich Bombenentschärfer genannt, statt", sagt Marcus Hammerl von der Bundeswehr-Uni in Neubiberg und tilgt damit gleich mal das von Hollywood geprägte Bild vom todesmutigen Draufgänger, "vielmehr geht es um die Qualifizierung von Ingenieuren, um Kampfmittelräummaßnahmen mit Sachkunde planen und beurteilen zu können".

Üblicherweise übernehmen das freiberufliche Ingenieure, die sich die Kenntnisse selbst angeeignet haben, erklärt Hammerl, denn: "Ausreichend qualifiziertes Personal fehlt sowohl auf Auftraggeber- und Behördenseite, als auch bei beteiligten Dritten, zum Beispiel Baufirmen." Hinzu kämen unterschiedliche Vorgaben für die Kampfmittelräumung in den Bundesländern. Mit der Zusatzausbildung solle langfristig dem Mangel an qualifiziertem akademischen Personal entgegengewirkt und gleichzeitig ein Schritt in Richtung bundeseinheitlicher und qualitativ hoher Standards gemacht werden.

Zum Lehrplan gehört die "Detonationsphysik", erklärt Hammerl: "Die Teilnehmer sollen bei der Sprengvorführung ein Gefühl für die Wirkung von bereits geringen Mengen Sprengstoff bekommen und so für das Gefahrenpotenzial sensibilisiert werden." Diese Sensibilisierung beginnt schon mit den ersten Sätzen von Blauhelm Lankes.

Eindringlich spricht er zunächst einmal über den Fall der Fälle: "Wenn etwas passieren sollte, irgendein Unfall mit Verletzten, oder wenn die Sirene einen dauerhaften Ton sendet, dann verlassen alle den Steinbruch und sammeln sich hier oben am Lotsenpunkt, von wo aus der Rettungsdienst zum Unfallort dirigiert wird." Zwar werden nur geringe Sprengstoffmengen zur Explosion gebracht, aber es wird halt scharf geschossen. Deswegen stehen auch einige Höhenmeter weiter unten in Sohle 3, wo es gleich krachen wird, Feuerlöscher und Erste-Hilfe-Set bereit. Man weiß ja nie.

Und darum geht es bei dieser 6500 Euro teuren Ausbildung: um Wissen, nicht nur um eine grobe Vorstellung. "Die Ausbildung umfasst vier Module über insgesamt acht Wochen", sagt Hammerl, der den Lehrgangsleiter Professor Conrad Boley unterstützt. Die Inhalte: Munitions- und Zündertechnik, Rechtsgrundlagen, Arbeitsschutz, Verfahren für die Planung, Erkundung und Räumung, Gefährdungsabschätzung im Abgleich mit Nutzungsplanung, um nur ein paar Punkte zu nennen.

Eine komplexe Angelegenheit, die sich vor allem an Bauingenieure und Geologen sowie Angehörige der öffentlichen Verwaltung richtet. Die Abschlussarbeit erfolgt in Form einer Projektarbeit, in der die Teilnehmer eine vorgegebene Aufgabe bearbeiten. Zugelassen werden nur Hochschulabsolventen eines naturwissenschaftlichen oder ingenieurtechnischen Studiengangs.

Sebastian Dosdall ist einer der 22 Teilnehmer. Er ist Geschäftsführer von GFKB, was für Gesellschaft für Kampfmittelbeseitigung steht. "Wir kommen aus Mecklenburg, das auch hochgradig belastet und verseucht ist." Alle Kampfmittel zu räumen, würde Schätzungen zufolge allein in diesem Bundesland 400 Jahre dauern. "Wir sind bundesweit aktiv", sagt Dosdall, "aber es fehlen die Fachkräfte." Für ihn, der schon so lange dabei sei, sei es interessant, auch mal die andere Seite kennenzulernen und das Fachtechnische aus Sicht der Ingenieurbüros anzuschauen. "Ich finde diesen Lehrgang sehr wichtig, auch für die Branche - dass man eben Planer schult und ausbildet", sagt Dosdall.

Auch in Bayern hat seine Firma Aufträge, zum Beispiel im Mühldorfer Hart, "das größte Belastungsfeld Bayerns mit mehr als 150 Sprengtrichtern", erläutert Dosdall. In dem 1100 Hektar großen Waldgebiet entstand während des Zweiten Weltkriegs unter Einsatz von Menschen aus Konzentrationslagern, Kriegsgefangenen und anderen Zwangsarbeitern ein Rüstungsbunker für die Produktion von Messerschmitt-Kampfflugzeugen. Tausende Menschen starben in den Arbeitslagern. Jetzt soll die vor einem Jahr eröffnete Erinnerungsstätte mit Leben gefüllt werden, doch aufgrund der hohen Kampfmittelbelastung war ein Betreten einiger Bereiche nicht möglich.

Dosdall schätzt, dass sich bundesweit etwa 60 Unternehmen mit Kampfmittelräumung beschäftigen, davon etwa 20 größere mit mehr als 100 Mitarbeitern: "Es gibt bei Bund und Ländern schon viele Menschen, die mit Kampfmittelräumung befasst sind, aber jeder auf einem anderen Ausbildungs- und Entwicklungsstand. Den Lehr- oder Ausbildungsberuf des Kampfmittelräumers gibt es ja nicht - wir sind alle Quereinsteiger."

Bis auf Richard Lankes. Der hat 14 Jahre lang seine Pioniere in Sachen Kampfmittel ausgebildet und auf Sohle 3 nun ein hübsches Potpourri vorbereitet: leere Sauerkraut-Blecheimer, einer davon mit Wasser gefüllt, die gleich mit nur 1,1 Gramm stecknadelgroßen Sprengkapseln auf 7000 Meter pro Sekunde beschleunigen werden. Außerdem liegen da mit Sprengkapseln versehene Schweinepfoten - "Schwein, weil diese Haut der des Menschen zu 70 Prozent ähnelt", erklärt Lankes. Unter einem mit Schweinehaut ummantelten Baumstamm liegt ein 2,5-Kilo-Paket Schwarzpulver.

Daneben: ein 27 Zentimeter dicker Baumstamm, umwickelt mit zehn Gramm Sprengschnur. Und weiter: ein Gramm Sprengstoff auf Deut-Platten aus Alu, in unterschiedlichen Abständen angebracht - um das Sympathieverhalten von Sprengstoffen zu demonstrieren. Und dann noch eine Hohlladung 25 Gramm Semtex auf leerer Panzergranate sowie 365 Gramm "gelatinöser Gesteinssprengstoff", wie Lankes sagt, zu deutsch: Dynamit.

Es wird Zeit, Abstand zu gewinnen. Aus gut 200 Metern Entfernung verfolgen die Helmträger die Sprengung. Ein Kollege von Lankes kniet an der Zündmaschine und trötet zunächst mal ins Horn. Ah ja, hatte Blauhelm ja erklärt: "Ein langer Ton bedeutet: Achtung Sprengung, in Deckung! Und drei kurze Töne: Achtung, es wird gezündet!" Und schon fliegt der erste Sauerkraut-Eimer hoch in die Luft, danach eine meterhohe Wasserfontäne.

Die Schweinepfoten sehen wirklich nicht mehr aus wie neu. Das Schwarzpulver unterm Baumstamm sorgt für einen veritablen Atompilz und wie später aus der Nähe zu sehen eine schön knusprige Schweinehaut. Höllisch laut ist die Detonation auf den Alu-Platten, absoluter Lautstärkensieger ist jedoch das bisschen Sprengschnur, das den meterlangen Baumstamm nicht nur durch die Luft wirbelt, sondern auch entzweibricht. Respekt. Den braucht man für diesen Job allemal.

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Quelle:
SZ vom 27.09.2019
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