Süddeutsche Zeitung

Münchner Bundestagskandidaten im Porträt:Die etwas andere Grüne

Lesezeit: 4 min

Doris Wagner wäre in der falschen Partei, würde sie nicht für die Verkehrswende kämpfen. Trotzdem arbeitet die 58-Jährige für den IAA-Ausrichter, die Messe München. Wie passt das zusammen?

Von Thomas Anlauf

Doris Wagner hört genau zu. Sie saugt Informationen auf, wägt ab, analysiert. So macht sie es auch bei ihrem "Klimaspaziergang" am Odeonsplatz, dann im Dichtergarten, später in der Türkenstraße. Die Bundestagskandidatin der Grünen für den Münchner Norden steht an diesem bewölkten Nachmittag gemeinsam mit einer Gruppe vor der Feldherrnhalle. Gerade erzählt neben ihr Christian Hierneis, Parteifreund und Landtagsabgeordneter, wie die Klimakrise auf dem Pflaster des Odeonsplatzes zu spüren ist. "Wenn jetzt die Sonne scheinen würde, wäre es hier knallheiß ohne Bäume. Und drüben im Dichtergarten wäre es um acht Grad kühler", sagt Hierneis, der in seiner Funktion als Vorsitzender des Bund Naturschutz in München als Experte am Spaziergang teilnimmt. Doris Wagner nickt und hört zu.

Natürlich hat sie sich in den vergangenen Jahrzehnten viel mit Klimawandel und den Auswirkungen beschäftigt. Und ihr ist bewusst, dass sie jetzt mit ihrer Partei Antworten liefern muss, wenn sie in die Regierung kommen will. "Wir kämpfen mit aller Kraft um Mehrheiten", sagt sie dann. Es geht um viel bei der Bundestagswahl, auch für Doris Wagner.

Die 58-Jährige war schon einmal Bundestagsabgeordnete, von 2013 bis 2017. In der Zeit hat sie sich viel Wissen angeeignet, sie war nicht nur Demografie-Expertin der Grünen-Bundestagsfraktion, sondern auch Obfrau im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend - und sogar Mitglied im Verteidigungsausschuss. Mit Chancengerechtigkeit kannte sie sich gut aus. Sie hatte über viele Jahre ein gutes Netzwerk aufgebaut und damit auch ihren Weg in die grüne Politik gefunden. Aber Verteidigungspolitik? "Ich kannte mich am Anfang nicht wirklich aus", gesteht sie bei einem Treffen vor dem Literaturhaus. "Aber es hat mich sehr interessiert."

In den vier Jahren im Bundestag erarbeitete sie sich ein tiefes Fachwissen, wie eigentlich überall, womit sie sich beschäftigt. Doch dann, 2017, bei der nächsten Bundestagswahl, "hat es leider nicht gereicht". Sie war auf der Landesliste der Grünen auf Platz 13 gesetzt, das Direktmandat für den Münchner Norden holte Bernhard Loos (CSU), der ebenfalls wieder antritt.

Doch Doris Wagner will es noch einmal wissen, so viel Kompetenz hatte sie sich schließlich in den vier Jahren in Berlin angeeignet. Schon als junges Mädchen hat sie immer etwas mehr gelernt als ihre Mitschülerinnen. Die gebürtige Bremerin stammt aus einfachen Verhältnissen. Ihr Vater war Arbeiter in einer Zigarettenfabrik, ihre Mutter Krankenschwester aus dem ostfriesischen Leer. "Es war ein sehr liebevolles, aber auch sehr einfaches Elternhaus", erinnert sich die 58-Jährige.

Beim Lernen konnten die Eltern nicht immer helfen, sie hat sich damals viel selbst beigebracht. Das ist ihr bis heute geblieben. "Ich bin gerne gut vorbereitet", sagt sie und lacht. Doris Wagner hat das wohl schon manches Mal gehört, dass sie nicht einfach drauf los plappert, wenn sie sich ihrer Sache nicht sicher ist. Aber wenn sie dann mit anderen Politikern gemeinsam auf dem Podium diskutiert, bringt sie ihre Argumente deutlich zum Ausdruck.

So fordert sie eine Grundsicherung für Kinder, Azubis und Studierende. In der Verteidigungspolitik hat sie sich vehement für ein Rüstungsexportkontrollgesetz stark gemacht. Bislang sei das Vorgehen der Regierung in dieser Hinsicht "völlig intransparent" was Exporte in problematische Staaten angeht, sagt sie. Rüstungsexporte seien auch keine Aufgabe der Wirtschaft: "Da hat man den Bock zum Gärtner gemacht", findet sie.

Bei der Vorstellung, dass deutsche Soldaten in deutsche Waffen blicken könnten, schüttelt sie sich regelrecht unter dem großen Sonnenschirm vorm Literaturhaus. In anderen Fragen ist Doris Wagner durchaus zwiegespalten. Etwa was den Umbau der Mobilität betrifft - und das hat etwas mit ihrem aktuellen Beruf zu tun. Denn sie ist Leiterin der Stabsabteilung Direktion bei der Messe München.

Indirekt beschäftigt sie sich also auch mit der Anfang September stattfindenden Automobilmesse IAA Mobility in München. "Als Grüne sage ich, wir brauchen eine andere Mobilität, einen anderen Verkehr", sagt sie. Andererseits sei Deutschland natürlich auch ein Industriestandort. Sie hofft, dass der Verband der Autoindustrie von den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat und es nun hinbekomme, den Fokus auf andere Antriebsformen zu legen. "Wir wollen den Verkehr nicht ganz abschaffen", betont sie. Allerdings müsse man die Entwicklung in der Branche "gut im Blick behalten".

Die Schwabingerin, die geschieden ist und seit Jahrzehnten in München lebt, hat einen guten Einblick in verschiedene Berufszweige. Nach dem Abitur 1982 in Bremen ging sie nach Würzburg und absolvierte dort die Dolmetscherschule als staatlich geprüfte Übersetzerin mit Schwerpunkt Wirtschaft. Sie hatte sich auf Englisch, Italienisch und Französisch spezialisiert und lebte und arbeitete zunächst in London in der Textilbranche, wo sie ihren späteren Mann kennenlernte. Dann zog das Paar gemeinsam nach Italien, dort war sie erst Fremdsprachenkorrespondentin und schließlich in einer bekannten Weberei für den Vertrieb des Unternehmens in Südwest-Europa zuständig. 1995 zog sie nach München und machte offiziell eine Ausbildung als Textilbetriebswirtin, die sie eigentlich schon längst war. Nach Stationen bei verschiedenen Modeunternehmen wagte sie 2002 mit einer Veranstaltungsagentur in die Selbständigkeit.

Kurz zuvor war sie den Grünen beigetreten und legte eine beinahe typische Parteikarriere hin: als Beisitzerin im Vorstand des Ortsverbands Schwabing, dann im Kreisverband München, Delegierte bei Landes- und Bundesparteitagen, beim Länderrat, beim Bundesfrauenrat, Sprecherin des Landesarbeitskreises Frieden/Europa/Eine Welt und auch noch Sprecherin für Frauen- und Gleichstellungspolitik auf Landes- und zeitweise auf Bundesebene. Im Jahr 2013 war es fast folgerichtig, dass die gut vernetzte Doris Wagner als Bundestagskandidatin für den Münchner Norden aufgestellt wurde - und in den Bundestag einzog.

Es sollte allerdings nur eine Legislaturperiode sein, 2017 schaffte sie den Wiedereinzug nicht. Doch jetzt rechnet sie sich trotz des mäßigen Listenplatzes 27 durchaus ein Direktmandat aus. Denn der Wahlkreis sei ziemlich offen zwischen ihr und den härtesten Konkurrenten Bernhard Loos (CSU) und Florian Post, glaubt Doris Wagner. Sie ist nun viel in der Stadt unterwegs, sei es auf einem Klimaspaziergang oder an einem der vielen Infoständen. Dort hört sie den Menschen genau zu. Und versucht Antworten auf die Fragen zu geben. In diesen letzten Wochen vor der Wahl wird sie wohl manchmal daran denken, was ihre Mutter ihr auf den Weg gegeben hat: Wenn du was willst, musst du was leisten. Darauf vertraut Doris Wagner.

Die Kandidatin im Video-Selbstporträt:

Die SZ hat die Münchner Direktkandidatinnen und Direktkandidaten für die Bundestagswahl gebeten, sich für ein Porträt selbst zu filmen. Alle Videos und weitere Kandidaten-Porträts finden S ie hier.

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URL:
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Quelle:
SZ vom 12.08.2021
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