Süddeutsche Zeitung

Streit um Versteigerung:"Man kann den Raub nicht trennen vom Mord"

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Von Jakob Wetzel, München

Das Buch sei ein "Meilenstein in der Geschichte des hebräischen Bibeldrucks", heißt es bei Zisska & Lacher, einem auf Bücher und Kunst spezialisierten Auktionshaus am Unteren Anger in München. Zur Versteigerung steht eine hebräisch-aramäische und ausführlich kommentierte Rabbinerbibel, entstanden zwischen 1524 und 1525. Das Buch mit der Losnummer 218 ist eines der wertvollsten Stücke bei der anstehenden Herbst-Auktion, es wird auf 15 000 Euro geschätzt. Doch es gibt ein Problem: Es ist Nazi-Raubgut. Die Gestapo hat es der jüdischen Gemeinde Münchens im November 1938 gestohlen, und die Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern (IKG) hätte es gerne zurück. An diesem Donnerstag aber soll es versteigert werden.

Das Auktionshaus erklärt dazu, die Israelitische Kultusgemeinde sei seit drei Monaten informiert. Sie habe sich aber an dem Buch nicht interessiert gezeigt, sagt Geschäftsführer Wolfgang Lacher. Die Historikerin der IKG sei nicht einmal ins Auktionshaus gekommen, um sich das Buch anzusehen. "Wir wären zu jedem Gespräch, zu jeder Lösung bereit gewesen, hätte man sich an uns gewandt", sagt er.

Die erwähnte Historikerin ist Sibylle von Tiedemann; sie bemüht sich seit etwa einem Jahr darum, die von der Gestapo geraubten Bücher zu finden und zurückzuerhalten. Sie erklärt, sie habe das Auktionshaus gebeten, einen Kontakt zum Anbieter des Buches herzustellen, und bis zuletzt darauf gehofft. Der Anbieter sei von den Wünschen der IKG unterrichtet worden, sagt Lacher. Zustande kam der Kontakt aber nicht.

Die Provenienz des Buches ist unstrittig: Es stammt aus der Bibliothek des Rabbiners Cossmann Werner, der ab 1895 Gemeinderabbiner in München war und seine Bücher 1906 der Gemeinde schenkte. Diese ergänzte sie zu einer Bibliothek mit etwa 10 000 Bänden, die zunächst in einem Gebäude neben der Hauptsynagoge an der Herzog-Max-Straße untergebracht waren. Von Tiedemann hat die Geschichte dieser Sammlung rekonstruiert.

Über das, was mit ihr geschehen ist, heißt es in der Buchbeschreibung von Zisska & Lacher, "in den Wirren der nationalsozialistischen Zeit" sei die Sammlung "weitgehend zerstreut oder vernichtet worden". Richtig ist: Im Juni 1938 ließen die Nazis die Synagoge abreißen, vier Monate später wurde die Bibliothek zwangsgeräumt. Mitglieder der Gemeinde packten die Bücher in Kisten und brachten sie zunächst in ein Rückgebäude einer Fabrik an der Lindwurmstraße, wo die Gemeinde neue Räume erhielt. In der Reichspogromnacht griff dann die Gestapo zu: Einem Bericht des Sicherheitsdienstes der SS zufolge wurden 170 Kisten weggeschafft. Wenig später nahmen die Machthaber die Menschen ins Visier. 1933 zählte die jüdische Gemeinde Münchens 9004 Mitglieder. Die Hälfte von ihnen wurde bis 1945 umgebracht.

Was aus den Büchern wurde, ist im Einzelnen unbekannt. Hannah Arendt machte 1949 darauf aufmerksam, dass 1239 Bände im Besitz der Münchner Stadtbibliothek seien. Diese gab das Raubgut zu Beginn der Fünfzigerjahre zurück, die Bücher verbrannten jedoch wohl bei dem bis heute ungeklärten Anschlag auf das Jüdische Altenheim an der Reichenbachstraße 1970. Damals starben sieben Menschen.

Erst 2015 erreichten die Kultusgemeinde wieder Hinweise auf den Verbleib der Bibliothek. So befinden sich bis zu 120 Bücher in der Nationalbibliothek in Prag und 750 weitere Bände im dortigen Jüdischen Museum. Einzelne Bücher stehen in amerikanischen Antiquariaten sowie in öffentlichen Bibliotheken in Deutschland, Polen, England und den USA. Die IKG bemüht sich, diese Bände zurückzuerhalten. Man sei im Gespräch, und zum Beispiel bei deutschsprachigen Bibliotheken gebe es auch kein Problem, sagt von Tiedemann: Die Bücher würden restituiert.

Tatsächlich zurückgegeben wurden seither 19 Bücher, unter anderem von der Freien Universität Berlin, aber auch von der Bibliothek der Universität von Kalifornien in Los Angeles. Was den aktuellen Fall angeht, ist eines unstrittig: Das Auktionshaus hat die Gemeinde im August über die anstehende Versteigerung informiert. Ein Mitarbeiter des Auktionshauses habe angerufen, um die Besitzrechte zu klären, bestätigt von Tiedemann. Davon aber, was gesprochen wurde, gibt es zwei Versionen.

Lacher erklärt, von Tiedemann habe die Situation bedauert und gesagt, die IKG könne und wolle das Buch nicht zurückkaufen. Abschließend habe von Tiedemann erklärt, es bestünden seitens der IKG juristisch keine Restitutionsansprüche. Von Tiedemann bestreitet das. Sie sei keine Juristin, sagt sie. Es gehe in ihren Augen aber auch nicht um eine juristische Frage. Die Enteignung der Juden gehöre zur Vorgeschichte des Holocaust. "Man kann den Raub nicht trennen vom Mord", sagt sie. "Wenn man den Raub und die neuen Eigentumsverhältnisse als legal akzeptiert, dann akzeptiert man auch den Novemberpogrom und den Holocaust als legal."

Von Tiedemann sagt, die IKG könne das Buch sehr wohl zurückkaufen, wenngleich nicht bei einer Versteigerung, bei der naturgemäß ein möglichst hoher Preis erzielt werden soll. Es dürfe zwar ihrer Ansicht nach nicht sein, dass die Gemeinde bezahlen muss, um ihr Eigentum zurückzuerhalten. Doch in der Vergangenheit habe man zu diesem Zweck schon einmal Spenden eingeworben. Vom Auktionshaus sei sie darauf hingewiesen worden, dass die IKG mitsteigern könne. "Das ist skrupellos. Das wird mit Sicherheit nicht passieren."

Die Vorstellung, der Preis könne nach oben getrieben werden, weil bekannt sei, dass die IKG das Buch unbedingt wolle, sei grotesk. Und dass in der Buchbeschreibung von Zisska & Lacher nun stehe, dass "nach Rücksprache" mit der IKG "juristisch keine Restitutionsansprüche" bestünden, empört sie. Der Satz signalisiere, dass die Versteigerung mit der jüdischen Gemeinde abgesprochen und diese einverstanden sei. "Wir möchten das Buch zurück, und dieser Satz muss weg!" IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch hat das Auktionshaus am 24. Oktober brieflich aufgefordert, den Passus zu streichen, denn er entspreche nicht den Tatsachen, ohne Erfolg. Zu dem Zeitpunkt sei der Katalog längst gedruckt und verschickt gewesen, erklärt Lacher.

Ob es tatsächlich keine Rechtsmittel gebe, sei ohnehin erst zu prüfen, sagt Ludwig Spaenle, der Antisemitismusbeauftragte der Bayerischen Staatsregierung. Der Entzug von Eigentum in der Zeit des Nationalsozialismus sei fortdauerndes Unrecht, sagt er. Mit Nazi-Raubgut nicht in den offenen Handel zu treten, "das gebietet schon der geschäftliche Anstand".

An diesem Samstag jährt sich die Reichspogromnacht und damit der Raub zum 81. Mal. Und während sich in München derzeit 200 Wissenschaftler aus aller Welt zur weltweit führenden Konferenz zur Holocaust-Forschung versammelt haben, kommt nun am Unteren Anger, wenige Hundert Meter vom jüdischen Gemeindezentrum entfernt, Nazi-Raubgut unter den Hammer. Man müsse diese Koinzidenzen nüchtern sehen, sagt Wolfgang Lacher. Womöglich gebe es unter den anwesenden Holocaust-Forschern einen Sponsoren, um das Buch zu ersteigern. Und: "Natürlich sind wir gerne dazu bereit, wie wir es auch Frau Präsidentin Knobloch zugesichert haben, den Kontakt zum bisherigen oder gegebenenfalls neuen Eigentümer nach der Auktion herzustellen."

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SZ vom 07.11.2019
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