Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: Nachtgeschichten:Arbeiten, während die anderen schlafen

Lesezeit: 5 min

Benny Johnson steht hinter der Bar des Neuraums, mitten im Trubel. Einsam dreht dagegen der Sicherheitsmann Osman Kivircik seine Kontrollrunden durch die Universität. Ein Besuch.

Von Linus Freymark

Drei Tequila, bitte! Die Musik ist so laut, dass der junge Mann im blauen Hemd drei Finger hebt, um zu zeigen, wie viele Shots er möchte. Benny Johnson stellt drei Schnapsgläser auf den Tresen, Tequila rein, Zitrone drauf, Salz dazu, sechs Euro. Kassieren, Blickkontakt mit dem nächsten Gast aufnehmen, die nächsten Drinks herrichten. Und das alles im Lärm von "Despacito", dem Sommerhit von 2017, der aus den Boxen scheppert und der es schwer macht, sich zu unterhalten. Aber dafür sind die Leute ja auch nicht hier, sie wollen feiern, flirten, tanzen. Und trinken. Deshalb steht Benny Johnson Wochenende für Wochenende hinter einer der Bars des Neuraums, dem größten Club der Stadt, und mixt, was ihm die Gäste ins Ohr brüllen: Zwei Wodka Bull, einen Jacky-Cola, drei Gin Tonic. Es ist immer laut und der Club meistens voll. Aber Johnson sagt: "Eigentlich ist das mehr Spaß als Arbeit."

Viele Menschen in München verdienen ihr Geld in den Stunden, in denen die meisten schlafen. Manche tun dies, weil sie wie Benny Johnson Parties lieben und im Trubel der Nacht Geld verdienen wollen. Andere sind während ihrer Nachtschichten alleine unterwegs. So wie Osman Kivircik, der Sicherheitsmann, der in der Dunkelheit seine Runden im Hauptgebäude der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) dreht und in Hörsälen, Büros und Toiletten nach dem Rechten sieht. Der während seiner Kontrollgänge viel Zeit zum Nachdenken hat. Und der im Notfall blitzschnell handeln muss.

Von draußen hört man den Brunnen vor der Universität plätschern, im Gebäude tanzt der Schein von Kivirciks Taschenlampe über die Wände. Ein paar dicke Staubwolken fliegen im Lichtkegel umher. Kivircik ist während seinen Kontrollgänge im Dunkeln unterwegs, das ist unauffälliger. Seine Absätze knallen auf den Steinboden, lange bleibt der Hall in den Mauern stehen. Während der Schicht trägt er einen dunkelblauen Anzug, ein weißes Hemd und eine rote Krawatte. Dazu kommen die Handschuhe, die Kivircik immer anhat, "eine Sache der Hygiene". Seine Schicht geht von 19 bis sieben Uhr morgens, währenddessen legt er rund 25 Kilometer zurück. Kivircik öffnet die Tür zum Südhof und tritt ins Freie. Sein Blick wandert die Fassade hinauf. Das hier seien Büros, erklärt er, hier sitzt die Fachschaft Slawistik und dort, wo Licht brennt, ist die Große Aula. Ein Lächeln huscht über das Gesicht hinter der Taschenlampe. Nach 26 Jahren weiß man so etwas eben.

Benny Johnson arbeitet seit zehn Jahren als Barkeeper, direkt zur Eröffnung des Neuraum hat er angefangen. Nebenbei hat er studiert, erst Fahrzeug- und Flugzeugtechnik, dann im Master BWL. Johnson ist aber nicht in die Finanzwelt eingestiegen, hauptberuflich arbeitet er unter der Woche als Model. Gerade zu Beginn der Woche, nachdem er bis vier oder fünf Uhr hinter der Bar gestanden hat, sei es schon schwierig, wieder in den Rhythmus hineinzufinden, meint Johnson. Das Neuraum hat nur freitags, samstags und an Abenden vor Feiertagen geöffnet, Johnson kommt so auf etwa sechs bis sieben Schichten pro Monat. Was er in einer Schicht verdient, will er nicht verraten. "Aber das Cash stimmt schon." Genau wie die Redensart, Barkeeper würden vom Trinkgeld leben. Und häufig angemacht werden. Wieder ein Grinsen bei Johnson. Manche der Anmachen seien zwar billig, etwa, wenn junge Frauen bei ihm zwei Wodka Bull und seine Handynummer bestellen. Aber wo, außer hinter der Bar, erlebt man das als Kerl denn sonst?

Als er damals, im Oktober 1993, nach seiner Ausbildung zur Fachkraft für Schutz und Sicherheit, an der Uni angefangen hat, wusste Osman Kivircik nicht viel mehr als jeder andere über die LMU und ihre Geschichte. Aber mit den Jahren ist das Wissen gekommen. Kivircik weiß, dass das Gebäude, das er heute bewacht, einst von Friedrich von Gärtner entworfen wurde. Dass das Audimax über 754 Plätze verfügt. Und dass im Lichthof einst die Mitglieder der Weißen Rose beim Abwerfen ihrer Flugblätter gegen die NS-Diktatur erwischt und verraten wurden. Er denkt oft daran während seiner nächtlichen Runden, malt sich aus, wie die jungen Studenten ihre Botschaften vorbereiteten und sie dann in der Uni platzierten.

Kivircik läuft eine der Treppen hinauf, die in der Dunkelheit noch breiter wirken als tagsüber und schließt den Senatssaal auf. Ein Flipchart steht herum, daneben ein paar verlassene Stehtische. Edmund Stoiber hat hier einmal eine Rede gehalten, erzählt Kivircik, Roman Herzog war schon einmal hier, Joachim Gauck. Dann blickt er nach oben zur schmuckverzierten Decke. "Schön, oder?" Er ist gerne hier. Aber gerade in Sommernächten wie dieser, in denen es die Menschen nach draußen zieht, denkt er auch daran, wie gern er früher mit seinen Freunden Rad gefahren ist oder sich mit ihnen an der Isar getroffen hat. Und dass das jetzt kaum noch geht, weil er schlafen muss, während die anderen am Fluss sitzen.

Kivirciks Job könnte jederzeit gefährlich werden

Heute Nacht hat Kivircik viel Zeit, die Attraktionen der Universität zu zeigen, unentwegt fliegt sein Finger durch die Gänge und Räume. "Schöne Stuckarbeiten sind das", sagt er dann. Oder: "Sehen Sie, echter italienischer Marmor." Doch nicht alle seiner Schichten sind so ruhig verlaufen wie diese. Am ersten Weihnachtsfeiertag 1999 hat er im Keller einen Wasserrohrbruch entdeckt, das Wasser war bereits hüfttief. Zwei Tage brauchte die Feuerwehr, um den Keller trockenzulegen. Einmal hat er einen Brand verhindert: Ein Professor hatte vergessen, seinen Wasserkocher auszuschalten. Das Gerät fing Feuer, Kivircik entdeckte den Rauch. "Da hab ich gleich einen Feuerlöscher genommen und gelöscht."

Und zweimal hat er Einbrecher erwischt: Das erste Mal zwei Studenten, die einen Beamer mitgehen lassen wollten. Als Kivircik sie ansprach, behaupteten die Jungs, sie hätten das mit einem Professor abgesprochen. Gut, hat Kivircik gesagt, dann rufen wir den Professor jetzt an. Nein, entgegneten die Jungs, das sei nicht nötig. Eine Weile ging das so, irgendwann rief Kivircik die Polizei. Der Professor wusste natürlich von nichts.

Beim zweiten Mal ertappte Kivircik zwei junge Männer, die einen Sack voller Computerteile nach draußen schaffen wollten. Als sie ihn bemerkten, rannten sie davon. Kivircik lief hinterher. Einen der beiden erwischte er, der andere konnte flüchten, ließ jedoch die Beute zurück. Hat man keine Angst, wenn man nachts allein plötzlich zwei jungen Burschen gegenübersteht? Nein, sagt Kivircik. Aber man müsse sich stets bewusst machen, dass der Job jederzeit gefährlich werden kann.

Auch im Neuraum gibt es öfter mal Stress, kein Wunder bei 2500 mehr oder weniger angeheiterten Gästen. Hinter jeder der Bars gibt es einen Notfallknopf, brauchen die Barkeeper Unterstützung, können sie damit die Security rufen. Johnson musste ihn noch nie drücken, aber ab und zu wurde es schon mal heikel: Einmal, es war Wiesnzeit, habe eine Kollegin eine Flasche an den Kopf bekommen, erzählt er, "das war heftig." Während des Oktoberfestes herrscht im Neuraum sowieso Ausnahmezustand. Der Club hat dann 16 Tage am Stück geöffnet und weil er direkt an der Hackerbrücke liegt, ist er für die meisten die erste Anlaufstation, nachdem die Zelte geschlossen haben. Viele Gäste sind nach dem Wiesnbesuch bereits ziemlich hinüber. Ist der Gast zu betrunken, sagt Johnson auch mal nein, du kriegst nichts mehr. Das wird nicht immer gern gehört. "Aber richtig Stress hatte ich noch nie."

Hier war es! Osman Kivircik hat den Lichthof erreicht, die Taschenlampe zeigt auf die Brüstung im zweiten Stock. Von hier haben die Mitglieder der Weißen Rose einst ihre Flugblätter heruntergeworfen. Kivircik lässt die Taschenlampe kreisen. Dann spricht er ihre Namen aus. Seine Stimme wird von den Wänden reflektiert und so hallen die Namen durch die Nacht: Sophie und Hans Scholl. Willi Graf. Christoph Probst. Dann zuckt die Taschenlampe in Richtung der Gedenktafel. Eine Vase mit Blumen steht darunter. Jeden Tag, erzählt Kivircik, stellen Mitarbeiter der Universität frische weiße Rosen dort ab.

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Quelle:
SZ vom 09.09.2019
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