Süddeutsche Zeitung

Gründer von Mini-München:Kunst, Arbeit und Konsum

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Mini-München-Gründer Gerd Grüneisl erinnert sich an die einstige ästhetische Erziehung und die Diskussionen um das liebe Geld.

Von Barbara Hordych, München

Am Anfang stand "das Unbehagen an den Strukturen des Kunstunterrichts", sagt der Künstler und Kunsterzieher Gerd Grüneisl. Anfang der Siebzigerjahre war der Unterricht in den Schulen theoretisch auf die Vermittlung eines kanonisierten Kunstverständnisses und praktisch auf Zeichenblock und Pinsel begrenzt; kreative Arbeit blieb auf einen auch zeitlich und räumlich festgesteckten Rahmen beschränkt. Das war wenig anregend, viele Schüler folgten den Aufgabenstellungen nur uninspiriert, sagt Grüneisl. "Sobald wir aber mit den Kindern das Klassenzimmer verließen, in den Stadtteil hinaus gingen zum Filmen oder Malen auf großen Leinwänden, ihnen Holz zum Bauen zur Verfügung stellten, fingen sie an zu experimentieren." Also haben er und andere Kunsterzieher den Begriff der ästhetischen Erziehung weiter gefasst, aus dem Bezugsrahmen Schule gelöst, "und ihn hinausgetragen in die Stadt und auf die Spielplätze, die eher reglementierte Schonräume waren". Dort trafen sie, für Lehrer überraschend, sogar auf Kinder, die fragten, ob sie bei den Aktionen mitmachen dürften.

"Es war für uns eine verblüffende Erfahrung, dass die Kinder draußen freiwillig und mit Begeisterung machten, was in der Schule oft mühsam eingefordert werden musste." Oft habe er von Lehrern gehört, die Kinder heutzutage seien unmotiviert und desinteressiert; sie indes hätten erlebt, wie motiviert und produktiv sie sein könnten. "Etwas musste also nicht stimmen an der Art, wie Themen und Angebote vermittelt werden", sagt Grüneisl.

Weil sie die Entwicklung von kreativer Arbeit als bewegte Praxis begriffen, fuhren er und andere Kollegen in den Ferien mit Materialaktionen auf die Spielplätze; dort errichteten die Kinder aus Pappe und Holz etwa ein Kunstmuseum, ein Kaufhaus, einen Zirkus, einen Jahrmarkt, es entstanden vielgestaltige, bunt bemalte Stadtlandschaften, die anschließend von den Kindern ohne Anleitung bespielt wurden.

Diese Erfahrungen waren 1979 der Auslöser für die Stadt München, zum Internationalen Jahr des Kindes Sondermittel an die engagierte Kunsterziehergruppe zu vergeben, um das Konzept für eine Stadt der Kinder zu entwickeln. Sie erhielten für ihr Projekt die Hälfte einer Sporthalle im Olympiapark. Die andere Hälfte war für eine große Bühne reserviert, auf der Künstler Musik, Theater und Tanz für das junge Publikum präsentierten. "Die waren dann aber genervt, weil die Kinder wenig Lust hatten, bei ihnen zuzuhören oder mitzumachen, sie kamen fast ausnahmslos in die Spielstadt, obwohl es dort kein Programm gab, sondern sie selbst aktiv werden mussten", erzählt Grüneisl. Ein Konflikt entstand, in dessen Verlauf den Spielstadt-Veranstaltern vorgeworfen wurde, "das Freispiel zu unterbinden, die Kinder in Kapitalismus und Konsum einzuüben". Dies war "völlig aus der Luft gegriffener Unsinn", bei diesem Thema kann sich Grüneisl noch heute in Rage reden. Kinder orientieren sich in ihren Spielen eben oft an den Realitäten ihres Alltagslebens, benutzen dazu gerne die Gegenstände, Werkzeuge und Symbole der Erwachsenen. Und darüber hinaus verfügen sie über ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden, wie sich bald im Spiel zeigte. So debattierten sie leidenschaftlich über steigende Preisentwicklungen und zunehmende Vermögensunterschiede in "ihrer" Stadt, in den Läden, im Gasthaus, bei der Bank und im Rathaus. Dabei galt von Anfang an die Regel, einerlei ob jemand schreinert, verkauft, studiert oder doziert: "Gleicher Lohn für alle".

"Ich erinnere mich noch gut an den Besuch des Münchner Stadtrats Gerhard Bletschacher in Mini-München", erzählt Grüneisl. Der CSU-Politiker und Inhaber einer Kartonagenfabrik erlangte traurige Berühmtheit wegen veruntreuter Gelder in der "Käseschachtel-Affäre", für die er 1998 verurteilt wurde. Aber davon war noch nicht die Rede, als er bei Mini-München zu Gast war. Und den Kindern erklärte, dass die Regel "gleicher Lohn für alle" jeder Realität widerspräche. Denn die Leute müssten unterschiedlich viel verdienen, je nach ihrer Leistung, verkündete Bletschacher.

Das gab den Kindern durchaus zu denken und sie forderten, die Regel zu ändern. "Da jede Regel durch Mehrheitsbeschluss der Bürgerversammlung geändert werden kann, stimmten wir ihrem Vorhaben ohne Widerrede zu", sagt Grüneisl. Daraufhin brach ein heftig wogender Aushandlungsprozess los: Die Schauspieler verlangten für sich den höchsten Lohn, die Bürgermeister hielten dagegen, dass sie die größte Verantwortung trügen; das beanspruchten aber auch die Küchenleute für sich, weswegen ihnen die beste Bezahlung zustünde. "Die Kinder haben drei Tage diskutiert, dann kamen sie zu dem Schluss: Da sie sich nicht darüber einigen können, wie die Arbeitsleistungen differenziert bewertet werden sollen, sei es wohl das Beste, die Regel ,gleicher Lohn für alle' beizubehalten." Bis heute ist es dabei geblieben, auch wenn der Lohn in Form von "MiMüs" inzwischen online überwiesen wird - wie im richtigen Leben.

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SZ vom 15.07.2020
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