Süddeutsche Zeitung

SZenario:Was Landkarten über die Welt erzählen

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Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah beginnt in München eine Deutschland-Tour - mit einem klaren Blick für falsche Perspektiven.

Von Antje Weber

"Ich spreche mit Landkarten. Und manchmal antworten sie mir etwas." Wohl auch aufgrund dieser Sätze aus Abdulrazak Gurnahs Roman "Ferne Gestade" hat man im Literaturhaus München eine große Weltkarte auf die Leinwand hinter dem Podium projiziert. Doch der Nobelpreisträger ist nicht mit ihr einverstanden: "Sansibar fehlt!", sagt er. Auch wenn ein kleiner Fleck neben Tansania im Meer erkennbar ist, trägt Sansibar hier keinen Namen. Mit dieser Karte, das macht der Schriftsteller deutlich, will er ganz bestimmt nicht sprechen. Nur gut, dass er ihr in den folgenden anderthalb Stunden den Rücken zuwenden kann.

Und damit ist man auch schon mittendrin in der Thematik, für deren literarische Verarbeitung Abdulrazak Gurnah, 1948 in Sansibar geboren und mit 18 Jahren nach England ausgewandert, im vergangenen Jahr den Nobelpreis bekommen hat - er ist als "herausragender postkolonialer Autor" ausgezeichnet worden, wie Literaturhaus-Leiterin Tanja Graf in der Begrüßung noch einmal hervorhebt. Das wissen natürlich alle im rappelvollen Saal, und viele haben offensichtlich bereits seinen Roman "Das verlorene Paradies" gelesen - dass an diesem Abend sein druckfrisch übersetzter Roman "Ferne Gestade" (Penguin) aus dem Jahr 2001 im Mittelpunkt stehen soll, löst ein leicht enttäuschtes Raunen aus.

Doch dafür gibt es keinen Anlass, denn auch dieser Roman, näher an die Gegenwart heranrückend, ist in seiner Vielfalt und Differenziertheit, seinem ruhigen Erzählton selbst bei düstersten Beschreibungen bestechend - davon wird das Publikum in den Lesungen von Schauspieler Benito Bause, in den Erläuterungen und Fragen von Moderator Bernhard Robben an Gurnah einen ersten Eindruck gewinnen. Doch jetzt erst einmal zur Frage aller Fragen an einen Nobelpreisträger: Wie war das am 7. Oktober 2021, als das Telefon klingelte und eine unbekannte Stimme eine irrwitzige Nachricht überbrachte?

Abdulrazak Gurnah schmunzelt, wenn er daran zurückdenkt. Er sei mit seinen Gedanken beim bevorstehenden Lunch und Tee gewesen, als der Anruf kam und zunächst eine "schwangere Stille" zu spüren war. Als er dann vom Preis erfuhr, reagierte er misstrauisch mit Fragen wie "What kind of joke is that?", gefolgt von: "If it's true - what happens now?" Kein Witz, nein, und was Gurnah gleich darauf am Computer inmitten eines schwedischen Redeflusses verstand, war tatsächlich sein eigener Name. Sofort klingelte sein Telefon, erinnert er sich, es ging los, "boom, boom". Und jetzt ist dieser schmale, bei aller Zurückhaltung immer klar und entschieden wirkende Schriftsteller und emeritierte Literaturprofessor ein Star- und Bestsellerautor, seine in München beginnende Deutschlandtour ein Ereignis.

"Nenn dich bloß nie Flüchtling!", riet ihm ein Cousin

Es ist ein Glück, nicht nur für ihn, sondern auch für die Leser, dass dieser Autor und sein Werk nun mehr Öffentlichkeit erfahren. Denn es weitet die Perspektive, wenn Gurnah im Literaturhaus zum Beispiel an die bis heute konfliktträchtigen Grenzen in Afrika erinnert, die einst von den Kolonialmächten nach reinen Machtinteressen auf der Landkarte gezogen wurden. Und wenn er den Blick auf hierzulande wenig beleuchtete Regionen lenkt, in die "kosmopolitische Welt des Indischen Ozeans" insbesondere, wie Gurnah sagt, als er das englische "By the sea" seines nun als "Ferne Gestade" übersetzten Buchtitels erklärt. Am Meer, da klinge zwar eine gewisse Leichtigkeit an, sagt er, die werde allerdings im Buch nicht eingelöst. Am Meer in Sansibar mit seinen Winden, seinen Handelsverbindungen ist nicht nur er selbst aufgewachsen, sondern auch seine Figur Saleh Omar. Deren Weg führt in diesem Roman ebenfalls nach England, in einen Brighton ähnlichen Ort, an eine ferne Küste.

In der britischen Ferne hat jener ältere Mann um Asyl nachgesucht. Auf Englisch liest Gurnah eine bewegende Passage, in der seine Figur das "Halbleben eines Fremden" beschreibt, in daueraktuellen Sätzen wie: "Ich bin Flüchtling. Asylbewerber. Diese Worte sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen", denn nie ist es einfach, an fremden Gestaden zu landen, "zusammengewürfelte Kleinigkeiten im Gepäck und geheime und verstümmelte Sehnsüchte unterdrückend". Ob Abdulrazak selbst, fragt Robben, sich einst als junger Mann bei seiner Ankunft in England als Flüchtling gefühlt habe? "Nein", kommt die blitzschnelle Antwort, das wäre ihm "peinlich" gewesen; er sei schließlich keiner mit Syrien oder der Ukraine vergleichbaren Gewalt entkommen und ihn habe auch der Wunsch nach Selbstverwirklichung getrieben. Im Übrigen habe ihm damals bei der Ankunft in Canterbury ein Cousin geraten: "Nenn dich bloß nie Flüchtling!"

Viel gäbe es noch zu sagen zu diesem Werk, diesem Autor, doch die Zeit ist fortgeschritten, und signieren soll Gurnah ja auch noch. Von allen Seiten drängen die Zuhörer mit Büchern in der Hand zum Podium. Abdulrazak Gurnah verschwindet völlig hinter dieser Menge, vor dieser Landkarte. Doch der Eindruck täuscht: Da vorne sitzt jemand, der sich und sein Werk auf der literarischen Landkarte für immer eingeschrieben hat.

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