Süddeutsche Zeitung

Pullach:Druck im Kessel

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Im Isartal sorgen sich Anwohner eines Chemie-Betriebs vor möglichen Risiken durch ein neues Gefahrgutlager.

Von Michael Morosow, Pullach

"Ich bin keiner, der gegen Glockenläuten protestiert", sagt Christian Boeck, stapft weiter durch das Waldstück neben dem Chemiewerk von United Initiators (UI) in Höllriegelskreuth, weist seinen Begleiter darauf hin, dass er gerade auf der alten Römerstraße Via Julia unterwegs sei, und zählt unterdessen weiter seine Schritte. Wovor er sich fürchtet, ist lauter als ein Glockenbimmeln, vor allem gefährlicher: Explosionen von mit Peroxiden befüllten Fässern, einem Feuerinferno, giftigen Rauchschwaden. "Circa 350 Meter sind es dann nur noch", verkündet der 44-jährige selbständige Kaufmann, als er am südlichen Ende des Waldes angekommen ist, wo der Höllriegelskreuther Weg die Grenze bildet. 350 statt zuvor 515 Meter, die, sollte seine Messung korrekt sein, zwischen den Wohnhäusern und dem gelagerten Gefahrgut des Chemiekonzerns nur noch liegen würden - wenn United Initiators tatsächlich seine Lagerstätten im gewünschten Umfang ausbauen darf, um das weltweit produzierte Gefahrengut am Standort Pullach zu konzentrieren.

Christian Boeck hat im September die Bürgerinitiative "Schutz der Haselmaus" gegründet und mittlerweile mehrere hundert Unterschriften gesammelt. Die possierlichen Tiere sind dabei gar keine Mäuse, sondern Bilche wie der Siebenschläfer, wie Christian Hierneis, Landtagsabgeordneter der Grünen und Vorsitzender der Bund-Naturschutz-Kreisgruppe München, erklärt. Auf jeden Fall stehen sie unter strengem Artenschutz und sind in dem Waldstück gesichtet worden, das zum Teil in einem Landschaftsschutzgebiet steht. Sie sollen nunmehr vergrämt werden, das nächste Zeitfenster dafür öffnet sich im kommenden Frühjahr, wobei Hierneis zu bedenken gibt, dass das Umsiedeln von Haselmäusen schwierig sei und das Ende der Population bedeuten könnte.

Es nimmt dem Sprecher der Bürgerinitiative und seinen Mitstreitern aber wohl eh niemand ab, dass sie jetzt zuvorderst zum Schutz der Haselmäuse, Zauneidechsen und Fledermäuse auf die Barrikaden gingen. Sie haben natürlich Angst um sich selbst, Angst davor, dass - wie schon öfter in der Vergangenheit - extreme Störfälle eintreten, wie 1982 bei einem verheerenden Großfeuer, als vier Lagerhallen brannten, Fässer explodierten und eine Giftgaswolke übers Isartal trieb, wie sechs Jahre später, als sich durch die Hitze sogar die S-Bahngleise verbogen, wie 1993, als bei einer Explosion in einem Großlabor ein Mitarbeiter getötet und 16 verletzt wurden, wie 2002, als ein Großbrand mit einer Reihe von Explosionen einen Millionenschaden in zweistelliger Höhe verursachte.

Wenn ihnen jemand diese Angst nehmen kann, dann ist es das United Initiators selbst. Der Hinweis auf 250 Millionen Euro, die man bereits in Sicherheitsmaßnahmen investiert habe, genügt vielen Skeptikern nicht.

Auf der Führungsebene des Unternehmens ist inzwischen die Erkenntnis gereift, dass es der Sache nicht dienlich sei, wenn die Bevölkerung weiter nicht einbezogen und damit allerlei Gerüchten ein Nährboden gegeben wird, wie etwa dem, dass hochentzündlicher Raketentreibstoff gelagert werde. Die verheerende Explosion am 4. August im Hafen von Beirut mit 190 Todesopfern und 6500 Verletzten hat dabei die Ängste in Pullach, Baierbrunn und Grünwald zusätzlich befeuert.

An diesem Montag, 7. Dezember, stellt sich das Chemieunternehmen nun erstmals der breiten Öffentlichkeit in einer Online-Informationsveranstaltung, die von 19 Uhr bis circa 20.30 Uhr dauern wird. In einem Studio werden anwesend sein der Geschäftsführer und der Standortleiter von UI, Andreas Rutsch und Kai Eckloff, Bürgermeisterin Susanna Tausendfreund (Grüne) und der Leiter des Bauamtes der Gemeinde, Jürgen Weiß. Dazu eingeladen sind alle Bürger und Bürgerinnen der Gemeinden Pullach, Baierbrunn und Grünwald unter www.publicdialogue-unitedinitiators.de. Jeder Teilnehmer kann seine Fragen einreichen, auch noch gegen Ende der Veranstaltung.

Wenn man die vielen Fragen von Christian Boeck auf eine komprimiert, dann lautet sie wohl: Ist die Gefahr eines folgenschweren Störfalls klein wie eine Haselmaus oder groß wie Gefahrenguttransporter, die täglich an- und abfahren? "Aufgrund der relativ geringen Mengen und der Eigenschaften der gehandhabten Stoffe sei eine Gefährdung der Nachbarschaft selbst bei einem Störfall äußerst unwahrscheinlich", heißt es in einem Info-Flyer des Unternehmens aus dem Jahr 2016.

Explosionen seien ausgeschlossen, sagte Eckloff zuletzt auch in den Gemeinderatssitzungen in Baierbrunn und Grünwald; die Peroxide, die in Pullach hergestellt und gelagert werden, könnten allenfalls brennen, nicht aber explodieren. Auch der Pullacher Gemeinderat Peter Bekk (Grüne), der zwischen 1998 und 2005 Managerposten in der Firma bekleidete, sagte vor Wochen im Gemeinderat, ein Unglück wie in Beirut sei in Pullach ausgeschlossen. Dazu hat sich Christian Boeck eine Frage für die Online-Veranstaltung notiert: "Warum sind dann auf dem Störfallblatt der Firma organische Peroxide ausgewiesen, die durch Schlag oder Hitzeeinwirkung explodieren können?", würde er gerne wissen.

"Big Wings" heißt das Projekt, mit dem United Initiators seine Lagerkapazitäten erweitern und die interne Logistik neu ausrichten will. Das heißt, dass das Gefahrgut von den Standorten in Hamburg, Mannheim, Halle und Frankreich in Pullach zwischengelagert und von dort verschickt wird. Viele Lkw-Fahrten würden dadurch wegfallen, betont UI. Christian Boeck findet diese Aussage unglaubwürdig, er geht im Gegenteil von mehr Transporten aus.

Die Sorge, die jetzt nicht nur die Mitglieder der Bürgerinitiative "Schutz der Haselmaus"plagen, ist nicht zuletzt die, dass mit der vorgesehenen Erweiterung der Lagerkapazität von Chemikalien von bisher 1000 Tonnen auf 1600 bis 1800 Tonnen im gleichen Maße die Gefahr eines weiteren Störfalls und dessen Intensität steigen könnte. Die Unsicherheit und Skepsis ist dabei in allen drei Isartalgemeinden zuhause, geklagt wird hier und dort über fehlende Informationen. So merkte bei der jüngsten Sitzung des Baierbrunner Gemeinderats Bürgermeister Patrick Ott (ÜWG) an, dass die Kommunikation des Unternehmens nach außen "zunächst suboptimal" gewesen sei, und erklärte die ehemalige Baierbrunner Bürgermeisterin Christine Kammermeier, sie hätte gerne mehr über die Sicherheitsgutachten erfahren.

Im Pullacher Gemeinderat hat das Unternehmen nach anfänglichen Schwierigkeiten aber durch seine neue Offenheit und die Vorstellung seiner Sicherheitskonzepte in sämtlichen Fraktionen bereits gepunktet. Die politische Gemeinde befindet sich ohnehin in einem formidablen Interessenkonflikt. Das 1911 in Pullach gegründete Chemieunternehmen mit 350 Mitarbeitern ist fester Bestandteil des Ortes, zählt zu den großen Steuerzahlern der Gemeinde und hält auch 15 Prozent Anteile an der Wohnungsbaugesellschaft Pullach. "Im Windschatten" des Corona-Lockdowns würde die Gemeinde Pullach jetzt den Bebauungsplan für UI "in einem atemberaubenden Tempo vorantreiben", ereiferte sich Anfang September ein Leserbriefschreiber im Isaranzeiger.

Vielleicht kommt in der Online-Runde Pullachs Agenda-Sprecher Bert Eisl mit seinem Vorschlag durch, eine Gefährdungsbeurteilung von unabhängiger Seite einzuholen. Der Glaubwürdigkeit halber - und um ein wenig Druck aus dem Kessel zu nehmen in dieser hochexplosiven Angelegenheit.

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Quelle:
SZ vom 07.12.2020
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