Süddeutsche Zeitung

Landkreis:Es sind noch Plätze frei

Lesezeit: 3 min

Weniger Nachfrage als Ausbildungsangebote - Betriebe setzen deshalb auch auf junge Flüchtlinge

Von Frederick Mersi und Cathrin Schmiegel

Als Facharzt Michael Rinecker von der Bewerbungslage in seinem "Allgemeinmedizinischen Zentrum" in Feldkirchen berichtet, schwingt so etwas wie Verzweiflung in seiner Stimme mit. "Wir haben eigentlich eine neue Praxis und sehr ordentliche Bedingungen", sagt er und fügt nach einer kurzen Pause ratlos hinzu: "Vielleicht liegt es ja auch an mir." In den vergangenen Jahren habe er nie Probleme gehabt, neue Auszubildende für die medizinische Assistenz zu finden. Auf die aktuelle Stelle hat sich aber bisher "kein ernsthafter Interessent" beworben. "Wir werden uns wohl mit einem weniger arrangieren und eine Teilzeitkraft einstellen müssen", sagt Rinecker.

In einer ähnlichen Lage befindet sich Hermann Niehaus von der Ismaninger Filiale des Reisebüros Arabella. Früher habe er zehn bis fünfzehn Bewerber pro Jahr auf die Ausbildungsstelle zum Reiseverkehrskaufmann gehabt, berichtet er: "Heute sind wir froh, wenn es ein bis zwei sind." Auch die Qualität der Bewerber sei gesunken, und das trotz guter Zukunftsaussichten: "Wir haben alle übernommen, die bei uns ausgebildet wurden." Nun beschäftigt Niehaus statt Auszubildenden Studenten der Tourismuswirtschaft, die jeweils im Wechsel nur eine Woche im Büro anwesend sein und arbeiten können.

Im gesamten Landkreis München bleiben Lehrstellen seit Jahren unbesetzt. Laut aktuellsten Zahlen sind bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) in München 947 offene Stellen gemeldet, und das bei gerade einmal 426 unversorgten Bewerbern. In der Stadt München liegt das Verhältnis von offenen Stellen zu Bewerbern bei 3193 zu 2411. Vertreter der Unternehmen, wie die Handwerkskammer (HWK) und die Industrie- und Handelskammer (IHK), möchten diese Plätze künftig vermehrt mit Asylsuchenden besetzen.

Auch welche Gewerbearten im Landkreis am stärksten von dem Abwärtstrend betroffen sind, erfasst die Statistik der BA: Neben dem Handwerk sind es Einzelhandel, Gastronomie und kaufmännische Berufe. Insgesamt sind 1146 Lehrstellen für angehende Einzelhandelskaufleute, Verkäufer und Fachverkäufer in und um München noch frei - gut eine Woche vor Ausbildungsbeginn. Lediglich 338 Bewerber äußern aber einen Berufswunsch in diese Richtung. Mehr als zwei Drittel der Stellen bleiben also unbesetzt. Zudem prognostiziert die HWK, dass 15 Prozent aller Stellen in Handwerksberufen frei bleiben.

Der Präsident der IHK für München und Oberbayern, Eberhard Sasse, ist alarmiert: "Die Betriebe wollen angesichts der guten Wirtschaftslage und des drohenden Fachkräftemangels eigenen Nachwuchs ausbilden", sagt er, "es fehlen aber immer häufiger die Bewerber." Der Grund: Der Trend geht verstärkt zu höherer Schulbildung und Studium. Seit Beginn der Achtzigerjahre sei die Zahl von Haupt- und Mittelschulabschlüssen um zwei Drittel gesunken, von jährlich 76 000 auf 26 000, sagt Sasse. Es sei der Ausbildungsbetrieb, der darunter leide.

Die Kammer fordert daher von der Staatsregierung die Umsetzung des sogenannten "3+2-Modells" für junge Flüchtlinge. Dieses besagt, dass Asylbewerber, die eine Lehre aufnehmen, in den drei Jahren ihrer Ausbildung sowie den zwei darauffolgenden Jahren nicht in ihr Herkunftsland zurückgeschickt werden dürfen. Hubert Schöffmann, der bei der IHK in München und Oberbayern für den Bereich Berufsausbildung zuständig ist, sagt, die damit verbundene Planungssicherheit sei ausschlaggebend: "Die Möglichkeit der Abschiebung hängt wie ein Damoklesschwert über den Köpfen der Beteiligten." Die IHK hat kürzlich einen Etappensieg errungen. Das Bleiberecht wurde reformiert; Asylbewerber aus unsicheren Herkunftsländern dürfen künftig drei Jahre lang in Deutschland bleiben. Nach erfolgreicher Ausbildung kommen in Bayern zwei weitere hinzu. Die Genehmigung jedoch muss jedes Jahr aufs Neue von der Ausländerbehörde erteilt werden. "Wir haben also ein 1+1+1+2-Modell erreicht", sagt Schöffmann. Eine entscheidende Einschränkung aber gibt es dabei: Der Asylsuchende muss seine Lehre vor Beginn des 21. Lebensjahres anfangen.

Harald Neubauer von der Arbeitsagentur sagt, die Voraussetzungen blieben aber für alle Bewerber gleich: "Ein berufsqualifizierender Abschluss ist die Eintrittskarte in die Ausbildung." Um jungen Flüchtlingen einen Schulabschluss zu ermöglichen und ihnen gegebenenfalls die Sprache beizubringen, gebe es Angebote wie berufsvorbereitende Berufsschulklassen. Doch die Kapazitäten seien begrenzt. Nach aktueller Gesetzeslage haben junge oder geduldete Asylbewerber erst nach einer Wartezeit von vier Jahren Anrecht auf eine berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme, im nächsten August wird die Wartedauer auf 16 Monate verkürzt.

Welche Ziele mit berufsvorbereitenden Maßnahmen verfolgt werden, erläutert Eric Fincks, Mitarbeiter der Berufsschule an der Balanstraße in München: "Wir wollen den Flüchtlingen den Anschluss an Arbeit, Ausbildung und weiterführende Schulen ermöglichen. Und wir möchten ihnen einen Abschluss mitgeben." Auch Fincks sieht das Bleiberecht als Lösung für die Flüchtlinge, um ihnen eine Ausbildung zu ermöglichen und sie zur Ruhe kommen zu lassen. Er warnt jedoch davor, die Menschen auf ihr wirtschaftliches Potenzial zu reduzieren. "Eine Ausbildung soll den Menschen nicht nur in Bedarfszeiten ermöglicht werden." Er würde sich eine dauerhafte und generelle Lösung wünschen, unabhängig von den Bedürfnissen deutscher Betriebe. Dazu soll auch die Betreuung der Flüchtlinge während ihrer Ausbildung gehören. Schöffmann von der IHK für München und Oberbayern ist sich dieser bestehenden Probleme bewusst, blickt aber zuversichtlich in die Zukunft. "Wir bleiben an weiteren Reformen dran", sagt er.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2616525
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 22.08.2015
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.