Süddeutsche Zeitung

Heilung von Blutkrebs:Und dann steht plötzlich der genetische Zwilling im Garten

Lesezeit: 3 min

Julia Gasser möchte nach ihrer Genesung von Leukämie "an 100 Orten gleichzeitig sein". Und noch häufiger ihren Stammzellenspender Marco treffen.

Von Claudia Wessel, Grünwald

Wie trifft man einen Lebensretter? Das fragte sich Julia Gasser, 35, nachdem die zwei Jahre nach der Stammzellenspende, mit der ihre Leukämie behandelt worden ist, vergangen waren. Es war ihr nun erlaubt, den Spender zu kontaktieren. Nachdem auch er sein Interesse an einem Kennenlernen bekundet hatte, sandte die Aktion Knochenmarkspende Bayern beiden zum selben Zeitpunkt die Kontaktdaten per E-Mail.

Genau am Tag der Einschulung ihres Neffen, am 14. September, traf eine SMS bei Julia ein. "Hallo Julia, hier ist der Marco, dein Spender." Sie antwortete nicht sofort. "Ich wusste nicht, wie ich ihm erzählen konnte, wie ich bin", erinnert sich Julia Gasser. Sie hatte das Bedürfnis, ihm von der Zeit zu berichten, von den zwei Jahren, nachdem er seine Stammzellen gespendet hatte. "Ich machte also ein Video aus Fotos." Darin zu sehen war unter anderem ein Bild, auf dem ihr Mann ihr eine Glatze rasiert, aber es waren auch viele aus der Zeit darunter, als es ihr langsam wieder besser ging. Eine kleine Geschichte in Bildern.

Daraufhin war Marco erst einmal sprachlos, berichtet Julia. Doch nach einer kleinen Atempause schickte auch er Fotos. Eines davon berührte Julia besonders: Es zeigte Marco beim Angeln mit seinem Sohn. "Mein Mann geht auch mit unserem Sohn angeln", antwortete die Mutter von Zwillingen. Und es ergaben sich noch mehr Gemeinsamkeiten. Auch Marco und seine Frau haben Zwillinge, Marco hat denselben Beruf wie jemand aus Julias Familie. Und das Beste angesichts einer Spenderdatei, in der Menschen aus der ganzen Welt vertreten sind: "Er lebt nur eine Stunde von uns entfernt."

Mit Marco hat sie zehn übereinstimmende HLA-Merkmale, mehr noch als mit ihren Geschwistern

Viele kleine Wunder, die Julia berühren. Sie ist 1996 mit ihren Eltern aus Kasachstan nach Deutschland gekommen. "Und hier finde ich also meinen genetischen Zwilling." Mit Marco hat sie zehn übereinstimmende HLA-Merkmale. Das sind Strukturen auf der Zelloberfläche, die dem Körper signalisieren, ob es sich um körpereigene oder fremde Zellen handelt. Damit die fremden Zellen nach einer Transplantation nicht abgestoßen werden, müssen die Merkmale von Patient und Spender so weit wie möglich übereinstimmen. "Zehn von zehn, das ist ein Match", sagt Julia. Nicht einmal bei ihren Geschwistern war dies der Fall gewesen, mit einem Bruder hatte sie 50 Prozent Übereinstimmung. Zur Not hätte man das probiert, doch Marco war besser.

Am 2. Oktober hat sie ihn kennengelernt. Nachdem ihr Mann Manuel sie immer wieder ausgefragt hatte, wie sie sich denn ein Kennenlernen vorstellen könnte, arrangierte er dieses ohne ihr Wissen. Er gab vor, an dem sonnigen Herbstnachmittag, einem Samstag, würden Freunde zum Grillen vorbeikommen. "Ich ging aus dem Wohnzimmer auf die Terrasse", erinnert sich Julia Gasser. Und dann sah sie "Marco und seine wunderbare Familie": ihn, seine Frau und die vier Kinder. Von den Fotos her erkannte sie ihn sofort und ein Glücksgefühl durchströmte sie. Es war sofortige Sympathie, gegenseitig.

Marcos Frau erzählte Julia später, dass er etwas Angst vor dem Treffen gehabt habe. "Was, wenn es nicht passt?", habe er gefragt. Doch seine Frau habe geantwortet: "Marco, sie hat deine DNA, es muss passen." Und sie behielt Recht. An dem Nachmittag erzählten sich alle sehr viel. Marco berichtete vom 1. April 2019, als er zur Spende ging. Vorher hatte er sich eine Zeitlang dreimal täglich eine Spritze selbst in den Bauch geben müssen, "damit die Stammzellen produziert werden", erklärt Julia. Am Tag der Spende saß er vier Stunden lang auf einem Stuhl mit Nadeln in beiden Armen. Sein Blut lief durch eine Maschine, die die Stammzellen aussortierte, und floß dann wieder in seinen Körper.

Am 3. April 2019 saß dann Julia ebenso da und empfing Marcos Stammzellen. "Man fühlt dann nicht sofort Superkraft", sagt sie. Es folgten noch viele Wochen im Krankenhaus, viele Abstoßungsreaktionen trotz der großen Übereinstimmung, sie bekam brennende Hautausschläge, Durchfälle, musste anfangs 20 Tabletten am Tag nehmen. "Ich hatte monatelang ein Mondgesicht vom Cortison", erinnert sie sich. 2020, als die Corona-Pandemie ausbrach, ging es ihr gerade sehr gut. Und für sie waren die Hygienemaßnahmen perfekt. Denn ihr schwaches Immunsystem musste geschützt werden, eine Infektion wäre lebensgefährlich gewesen. Eine Maske trug sie bereits seit 2018.

Heute geht es ihr sehr gut. Sie hat nicht mehr ihre alte Blutgruppe, sondern die von Marco, null, empfindet ihn quasi als Blutsbruder, wie sie sagt. "Ich kann wieder alles essen", freut sie sich, nachdem sie lange ein Verbot für alles Rohe hatte. "Das war sehr anstrengend." Überhaupt war sie so viele Monate erschöpft gewesen, manchmal "zu müde, um vom Sofa aufzustehen". Dank Marco ist das vorbei. "Jetzt ist meine Energie wieder da, und ich möchte an 100 Orten gleichzeitig sein." Bald wird sie mit ihrem Mann wieder da sein, wo Marco und seine Familie sind. Denn die neue Freundschaft mit dem "genetischen Zwilling" soll auf jeden Fall weiter gepflegt werden.

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Quelle:
SZ vom 23.10.2021
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