Süddeutsche Zeitung

Kreis und quer:Voraus in die Vergangenheit

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Die Menschen träumen von schnellen Handys, Lufttaxis und Supercomputern. Doch dann stehen plötzlich wieder Schrankenwärter am Bahngleis.

Kolumne von Bernhard Lohr

Technik-Nerds und alle Ungeduldigen, denen die Zukunft sowieso immer zu weit weg ist, fiebern schon der neuen Generation des Mobilfunk-Standards 6 G entgegen. Da geht dann alles am Smartphone nochmal 8000 Mal schneller als beim 5-G-Netz, das noch nicht einmal fertig aufgebaut ist und genaugenommen schon wieder überholt. 100 Mikrosekunden dauert es dann nur noch, bis sich Daten in Bilder oder Filme auf dem Screen verwandeln. Das flutscht dann nur noch so. Nicht mehr lang, dann ist ein Gedanke noch gar nicht zu Ende gedacht und die Message längst raus und angekommen.

Dabei wäre mancher froh, wenn überhaupt etwas voranginge. Die Unterschleißheimer etwa leben seit Jahren mit einem maroden Einkaufszentrum im Herzen ihrer Stadt und haben soeben von Bürgermeister und Investoren erzählt bekommen, dass sie noch zehn Jahren warten müssen, ehe sie in der neuen Stadtmitte ein Eis schlecken können. Und in Sauerlach fühlt man sich sogar glatt in die Vergangenheit zurückversetzt: Für eine Zeitreise reicht Science-Fiction-Freunden dort ein S-Bahn-Ticket, um im Schritttempo über Bahnübergänge zu zuckeln, wo wieder Schrankenwärter ihren Dienst verrichten. Es muss sich keiner abhetzen: Die Schrankenwärter stehen noch länger, weil die Bahn erst planen muss für neue Bahnübergänge. Fachgutachten müssen den Eingriff in die Natur beurteilen. Alles sei sehr kompliziert, auch mit der Technik, sagen die Verantwortlichen. Und man denkt sich, dass das ganz andere Leute sein müssen als die mit dem 6 G.

Längst bewegen wir uns in philosophischen Sphären, um zu verstehen, was um uns herum passiert. Ernst Bloch sprach von der "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen", um mit Blick auf den Nationalsozialismus verschiedene Stufen des Fortschritts in einer Gesellschaft zu beschreiben. Solch schlaue Zeitgenossen wären jetzt recht, um uns zu erklären, wie wir die Deutschland-Geschwindigkeit, von der Olaf Scholz spricht, mit der Einführung des Deutschlandtakts bei der Bahn bis 2070 zusammenbringen sollen. Und während die einen pausenlos über Gendern und Gender-Gerechtigkeit diskutieren, sagt der UN-Generalsekretär: Bis zur Gleichstellung von Mann und Frau dauert es noch 300 Jahre.

Doch der Mensch hofft weiter. Er kann offenbar nicht anders. Gerade in einem Landkreis wie dem Münchner, in dem an Volocoptern geforscht und Quantencomputer entwickelt werden. So geben auch die Haarer ihren Glauben an eine eigene Realschule nicht auf und die Ottobrunner sind seit dieser Woche wieder ganz zuversichtlich, dass die U 5 bald bei ihnen hält. Und alle freuen sich aufs erste Windrad. Da geht es dann nicht um die neue Generation eines Technikstandards, sondern um eine Generationenfrage, bei der die Zeit wirklich drängt.

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