Süddeutsche Zeitung

Einmal rund um München:Selbstbewusster Wurmfortsatz

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In unserer Serie "Hart an der Grenze" erkunden SZ-Autoren den Verlauf der Münchner Stadtgrenze. In Folge 10 geht es um das nüchtern-entspannte Verhältnis von Neuried und Planegg zu München. An den Berührungspunkten verschmelzen Großstadt und Gemeinden bis zur Unkenntlichkeit.

Von Julian Raff, Neuried/Planegg

"Vielen Besuchern und sogar Neubürgern ist nicht klar, dass sie das Stadtgebiet Münchens verlassen haben", beschreibt Ortschronist Johannes Gottwald, was jeder schon erlebt hat, der nicht gerade mit dem Röntgenblick des Lokalhistorikers aus Fürstenried hierher kommt: Der Grenzübertritt über die Hauptachse der Neurieder-/Forstenrieder Straße gestaltet sich denkbar unspektakulär.

Zwischen Tankstellen und Pendlerparkplätzen schafft es das gelbe Ortsschild am ehesten dann ins bewusste Blickfeld, wenn einem der Stau mal wieder Zeit zum Schauen schenkt. Wie sonst höchstens noch zwischen Trudering und Haar oder in Waldtrudering/Neubiberg, verschmelzen Stadt und Umland hier bis zur Unkenntlichkeit - mit Folgen, die Neurieds Bürgermeister Harald Zipfel (SPD) eher amüsiert zur Kenntnis nimmt, als mit gekränktem Lokalstolz.

Der IZB-Turm in Martinsried samt Kunstwerk ist Anlaufstelle für Wissenschaftler und Geschäftsleute aus aller Welt.

Sonnenblumen empfangen den Besucher schon am Ortseingang von Neuried.

Der Brunnen am Rudolf-Kammerbauer-Weg steht bis heute für den dörflichen Charakter der Gemeinde.

Ins malerische Rathaus Neuried verirren sich immer wieder auch Münchner.

Es komme schon vor, sagt Zipfel, dass Münchner das kleine, aber gut sichtbar gelegene Rathaus für eine Dependance des Marienplatzes oder des KVR halten und dort ihre Amtsgänge erledigen wollen. Mit Pass oder Lohnsteuerkarte könne man in solchen Fällen natürlich nicht dienen, mit allgemeinen Auskünften helfe man aber gerne aus, so viele Irrläufer sind es dann ja auch wieder nicht. Der umgekehrte Fall, dass sich Neu-Neurieder noch innerhalb der Stadtgrenzen wähnen, ist erstaunlicherweise seltener. "Die meisten wissen schon, dass wir eigenständig sind", sagt Zipfel. Nach Süden zu ist der Grenzverlauf noch recht klar. Dort stößt Neuried direkt an den - gemeindefreien - Forstenrieder Park, der Name kennzeichnet schließlich eine "neue Rodung". Komplizierter wird es, wenn man am Südostende der Rodungsinsel in die Buchendorfer Straße einbiegt. Das schmale Sträßchen bildet die Grenze, ohne sichtbaren Hinweis: Die geraden Hausnummern auf der Westseite gehören zu Neuried, die ungeraden, östlichen zu München. Für Feuerwehrleute und Sanitäter wae das vor der digitalisierten Ortung eine verwirrende Angelegenheit.

Was ältere Stadtpläne ebenfalls nicht verraten, ist, dass es hier, zumindest für Autofahrer, doch eine Grenze gibt: Die Querverbindungen der Zugspitz- und Werdenfelser Straße verengen sich am Ortsrand zum Fußweg. Wollte sich da jemand abschotten? Kein bisschen, versichert Bürgermeister Zipfel. Die Wohnstraßen wurden erst nach dem Bau der Ortsumgehung M 4 abgehängt, um bei Stau nicht als Schleichweg herhalten zu müssen.

Weiter nördlich folgt die Grenze schließlich kurz der Neurieder/Forstenrieder Straße und knickt auf Höhe des Hettlage-Komplexes wieder nach Norden. Wenn sich die Nahtlinie München-Neuried irgendwo sichtbar abzeichnet, dann am ehesten hier, am Rudolf-Kammerbauer-Weg: Zwischen die Kommunen schiebt sich ein parkartiger Wiesenstreifen, der im Norden in eine Kleingartenanlage übergeht. Dahinter auf beiden Seiten Hochhäuser, bis zu 45 Meter hoch auf Münchner, 15 Meter niedriger auf Neurieder Seite. Im Sommer verbirgt ein schmaler Waldstreifen einen Erdwall, der genau auf der Trennlinie verläuft. Zahlreiche Trampelpfade durchs Gebüsch belegen einen lebhaften kleinen Grenzverkehr. Natürlich hatte auch hier niemand die Absicht, eine Mauer zu bauen. Der Wall ist, wie die ganze Grüntrasse, das Relikt einer einst geplanten Umgehungsstraße nach Großhadern, genauer gesagt, ist er das Fundament einer Lärmschutzwand. Anstelle der wilden Pfade wünschen sich die Neurieder schon lange einen richtigen Fußweg, auch wenn der grenznahe Supermarkt auf Münchner Seite dichtgemacht hat.

Im "Weichselgarten" verliert sich die Trennlinie unter dschungelartigem Buschwerk

Münchner Planer haben die Idee erst jetzt aufgegriffen, im Zuge der umstrittenen Nachverdichtung in Fürstenried West. Den von der Bayerischen Versorgungskammer geplanten Bau von 600 Wohnungen unmittelbar an der Ortsgrenze sehen Bürgermeister und Gemeinderat skeptisch: Sportstätten oder auch die Musikschule verzeichnen großen Zulauf aus der Landeshauptstadt. Die Grundschule kann weder freiwillig noch zwangsweise Münchner Kinder aufnehmen, und zusätzlichen Verkehr bringt das Vorhaben sowieso nach Neuried. In den fortschrittsseligen 1960er-Jahren freilich, als die Hochhaussiedlungen beiderseits der Grenze in den Himmel schossen, schien das Wachstum noch unproblematisch. Neuried war drauf und dran, sich in eine Trabantenstadt mit 25 000 Einwohnern und in eine überregionale Verkehrsdrehscheibe zu verwandeln. Eine Bürgerinitiative stoppte schließlich Pläne für eine bis zu 17 Stockwerke hohe Bebauung der kompletten Rodungsinsel.

Münchner werden wollten die Neurieder aber trotz Wachstumseuphorie nicht, weder in den 1970er-Jahren, als im Zuge einer Gebietsreform die Kreise und Gemeinden fusionierten, noch während der NS-Zeit. Allerdings hinderte nicht der Bürgerwille, sondern der Krieg die "Hauptstadt der Bewegung" daran, Neuried zu schlucken, so wie Solln und Großhadern. Eineinhalb Jahrzehnte zuvor allerdings hatte die Gemeinde, damals ein zwischen Würm und Isar gelegenes Bauerndorf, noch erfolglos um "Einverleibung" nach München gebeten. Heute pflegt die 8600-Einwohner-Kommune ein nüchtern-entspanntes Verhältnis zum riesigen Nachbarn. Der Wasserverbund zum Beispiel funktioniert, auch wenn er vor 63 Jahren nicht freiwillig zustande kam, sondern als Folge einer von Münchner Seite verschuldeten Grundwasserkontamination. Die Busverbindung nach Großhadern könnte mehr leisten, um die Pendler besser auf die U 3 und U 6 zu verteilen.

Insgesamt ist Neuried mit den westlichen und südlichen Nachbarn enger vernetzt als mit der nahen Metropole, deren Wurmfortsatz sie auf der Karte bildet. Seit Kurzem richten die Neurieder den Blick ohnehin weder in die Stadt noch hinaus, sondern vor allem aufs eigene Ortszentrum, das sie aufwerten - und dabei, so gut es geht, die Zerschneidung durch den Verkehr heilen wollen. Weiter im Norden durchläuft die Grenze den recht unzugänglichen und von Windwürfen zerrupften "Weichselgarten" im Fürstenrieder Wald. Dschungelartiges Buschwerk verbirgt die Grenze schließlich auch auf dem letzten Abschnitt zwischen Campus Martinsried und Klinikum Großhadern bis hinauf zur Würmtalstraße - zumindest so lange die U-Bahn-Verlängerung auf sich warten lässt und die Stadt hier noch nicht ganz mit dem Nachbarn verschmolzen ist. Kurioserweise verläuft der Stadt-Limes ausgerechnet im hiesigen Zukunftsquartier nicht, wie fast überall sonst, geradlinig, sondern folgt der Zickzack- und Wellenlinie jahrhundertealter Feldgrenzen.

Alle weiteren Folgen der Serie "Hart an der Grenze" finden Sie hier.

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Quelle:
SZ vom 31.08.2017
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