Süddeutsche Zeitung

Ausstellung:Metamorphosen auf Augenhöhe

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Im Rathaus Unterföhring ist digital verfremdete Kunst des Projekts "Behind­Art" zu sehen

Von Irmengard Gnau, Unterföhring

Der Mann reckt die Arme triumphierend in die Luft. Erleichterung und Stolz strömen aus seiner Geste. Hat er eine anstrengende Reise hinter sich, musste er Dinge hinter sich lassen, bis er hier am Meer stehen konnte, auf einem Hügel mit Blick auf die Wasserkante? Das Kunstwerk überlässt es dem Betrachter, sich selbst eine Antwort auf diese Frage zu geben. Doch der Ansatz, loszulassen, um neue Erkenntnismöglichkeiten zu eröffnen, zieht sich als thematischer wie methodischer Leitfaden durch den Bilderreigen, der von diesem Freitag an im Unterföhringer Rathaus zu sehen ist. Die Ausstellung trägt den Titel "Behind Art" und beweist nicht nur im Untertitel, dass Kunst Behinderung trotzt: Die neun Künstler leben und arbeiten in der Stiftung Pfennigparade in München, einem Rehabilitationszentrum für Menschen mit Körperbehinderung.

In ihren Bildern blicken die Künstler in mehrfacher Hinsicht hinter die vordergründigen Sichtbarkeiten und laden auch den Rezipienten dazu ein. Bei genauer Betrachtung ist das Meer, das im Bild so wogend erscheint, eine Farbspur, der Sandhügel eine nur zentimeterhohe Furche aus Ton, festgehalten mit dem Makroobjektiv und schließlich mit Hilfe von Bildprogrammen am Computer verfremdet. Die Perspektive ändert sich und mit ihr die Interpretation. Aus haptisch greifbaren Formen werden abstrakte Bilder, Landschaften, Lebensräume. Initiiert hat die Ausstellung die Kunstpädagogin Ricarda Reimann. Sie ist Teil ihrer Abschlussarbeit zur integral-therapeutischen Kunstpädagogin. Ausschlaggebend war für die 33-Jährige die Erfahrung, dass die Omnipräsenz von technischen Hilfsmitteln wie Smartphone und Computer im Alltag von Menschen ohne wie mit Behinderung und deren Einsatz zu therapeutischen Zwecken in Deutschland weit auseinanderklaffen. "Ich habe mich gefragt, wie sich Kunsttherapie und Digitalisierung zusammenbringen lassen", sagt Reimann. Die Antwort suchte sie im praktischen Versuch: In der Gruppe "Digitale Kunst" der Pfennigparade fand sie neun Mitstreiter, die sich mit ihr über knapp ein Jahr in den kreativen Prozess begaben.

Dabei ging es zunächst um die Grundlagen der späteren Ausstellungsstücke. Mit Hilfe klassischer künstlerischer Darstellungsmittel - Farbe, Papier, Spachtelmasse - gestalteten die Gruppenmitglieder großflächige Bilder. Freilich auf ihre eigene Art. Denn für Muskeldystrophiker oder Aphasiker ist es eine andere Herausforderung, einen Pinsel zu führen. Dem begegneten die Künstler mit viel Kreativität, indem sie ihre eigenen Hilfsgeräte entwickelten - etwa einen Pinselhalter am Fußbrett des Rollstuhls. In der zweiten Phase eröffnete der Blick durch die Kameralinse auf die entstandenen Bilder neue Interpretationsmöglichkeiten. Die Detailaufnahmen wurden digitalisiert und dienten der Gruppe schließlich als Grundlage für ihre letzten Projektschritt: der Verfremdung der Bilder mit Hilfe von Bearbeitungsprogrammen am Computer, durch welche diese einen neuen Kontext erhalten. Die Ergebnisse der Metamorphosen überraschten auch Initiatorin Reimann: "Mich fasziniert, aus wie vielen Perspektiven man eine Situation und auch sich selbst betrachten kann."

Die 33-Jährige ist gelernte Webdesignerin und landete eher durch Zufall beruflich in der Pfennigparade. Der Umgang dort gefiel Reimann so gut, dass sie beschloss, sich weiterzubilden zur Kunstpädagogin. "Ich hatte am Anfang Berührungsängste", sagt sie. "Aber wenn man die einmal überwunden hat, ist es ein Verhältnis wie jedes andere, vielleicht noch mehr auf Augenhöhe." Für das Projekt sei die Arbeit der Künstler mit körperlichen Behinderungen sogar besonders fruchtbar gewesen - weil es so zentral war, eigene Ideen loslassen und dem kreativen Prozess der Gruppe überlassen zu können. "Das ist mir selbst, glaube ich, am schwersten gefallen", sagt Reimann und lacht. Für die Künstler hingegen war das gemeinsame Schaffen einfacher - "vielleicht weil sie gewohnt sind, dass ihnen öfter jemand assistiert", vermutet sie. Eine Künstlerin beschreibt die Zusammenarbeit mit Reimann oder anderen Helfern mit dem Bild: Sie selbst sei der Kopf, der Assistierende die Hand, welche die im Kopf geborene Idee dann ausführt und umsetzt. Aus kunsttherapeutischer Sicht hat "Behind Art" auch das Ziel, dass die körperlich eingeschränkten Künstler sich durch ihre Arbeit an dem Projekt handlungsfähig erleben, sagt Reimann.

Ein Gruppenmitglied ist während der Arbeiten gestorben. Sein Beitrag ist aufgegangen in den Bildern der anderen, zu Welle, Berg oder Wüstenlandschaft geworden.

"Behind Art - Kunst trotz(t) Behinderung" ist bis 16. März im Rathaus Unterföhring zu sehen. Vernissage ist an diesem Freitag, 9. Februar, 19 Uhr.

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SZ vom 09.02.2018
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