Süddeutsche Zeitung

Figurentheaterfestival:Die Welt in Miniatur

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Unter dem Motto "Macht Geschichte!" präsentiert das Internationale Festival "Wunder." 30 Inszenierungen, die nicht nur Geschichten erzählen, sondern Geschichte mit Puppen, Objekten und Bildern lebendig machen.

Von Barbara Hordych

Weltgeschichte und biografische Geschichte stehen im Zentrum beim Internationalen Figurentheaterfestival "Wunder." (wenn man alle Zeichen spricht, kommt als Titel "wunder Punkt" heraus). Unter dem Motto "Macht Geschichte!" laden vom 14. Oktober bis 8. November 30 Produktionen aus Slowenien, Frankreich, Belgien, Norwegen, Spanien, El Salvador, den Niederlanden, der Schweiz, Afghanistan und Deutschland im Münchner Stadtmuseum und in der Schauburg, im Hoch X, in den Kammerspielen, im Instituto Cervantes und in der Pasinger Fabrik das Publikum dazu ein, Geschichte neu zu sehen.

In dem Eröffnungsstück "Kaffee mit Zucker?" (14. 10., 20 Uhr, 15.10., 18 Uhr, Stadtmuseum) arbeitet die Performerin Laia Rica, die in El Salvador und Deutschland aufgewachsen ist, "die deutsche Ausbeutungsgeschichte in Guatemala auf - aber es gibt zum Schluss auch Zuckerwatte und Kaffee für die Zuschauer", erklärte die künstlerische Leiterin des Festivals, Mascha Erbelding, bei der Programmvorstellung.

Zweimal Hans

Man nehme einen schönen Prinzen mit Namen Hans, ein verlorenes Mädchen, sieben verrückte Zwerge, eine böse Stiefmutter, ein bisschen Magie, eine Menge Neid, eine große Portion Freundschaft, einen vergifteten Apfel und ein Happy End. Und schon hat man die Ingredienzien für "Einmal Schneewittchen, bitte!" beisammen, eine schräg-skurrile Adaption des bekannten Märchens vom Berliner Theater Zitadelle/Anna Rampe, die 2018 den Ikarus, eine Auszeichnung des Jugendkulturservice Berlin für herausragende Theaterinszenierungen für Kinder und Jugendliche erhielt (15.10., 15 Uhr, Pasinger Fabrik).

"Hans im Glück", das Grimmsche Märchen vom Leichterwerden, erzählt das Parwaz Puppet Theatre aus afghanischer Perspektive (5.11., 11 Uhr, Bellevue di Monaco). Abdul Haq Haqjoo, als Puppenspieler ausgebildet an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch", unterrichtete an der Fakultät der Künste in Kabul, wo er auch regelmäßig Theaterfestivals organisierte. Das Märchen vom Hans im Glück, erzählt auf Paschtu und Deutsch, ist für ihn eine universelle Metapher, die leichtfüßig daherkommt, gleichzeitig aber von großem Weh spricht: Wer nichts hat, kann nichts verlieren. Seit 2021 lebt er in Deutschland und Frankreich im Exil. Denn den Taliban gilt Puppentheater als Sünde, da Abbilder des Menschen verboten sind, Theater desgleichen. Umso mehr also Theater mit Puppen, mit Menschen-Abbildern. Auch der Puppenspieler Karim Asir, der als "afghanischer Charlie Chaplin" berühmt wurde und über den Arte in diesem Mai eine Dokumentation ausstrahlte, musste mit seiner Familie vor den Taliban fliehen. Beide Künstler nehmen am 4. November um 16 Uhr im Stadtmuseum am Gespräch "Puppenspieler im Exil" teil.

Erzählte Weltgeschichte

Im Zentrum des Figurentheater-Stücks "Simplicissimus" des norwegischen Theater Corpus steht der Konflikt zwischen Olaf Gulbransson und Theodor Heine. Wo endet die Freiheit des Künstlers? Und wie steht es um sein Gewissen? Albert Langen und Thomas Theodor Heine gründeten 1896 in München die illustrierte Satire-Zeitschrift "Simplicissimus". Während der Weimarer Republik positionierte sich das politische Magazin, dessen berühmtes Logo, die rote Bulldogge, aus der Feder Heines stammt, klar gegen jeden Extremismus von Rechts und Links. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten musste Heine 1933 wegen seiner jüdischen Wurzeln seine Anteile an der Zeitschrift aufgeben. Andere Redaktionsmitglieder und Künstler wie Olaf Gulbransson blieben und standen vor der Gewissensfrage: "Wie kann ein Künstler in dieser Situation integer bleiben?" (21./22.10., 19 Uhr, HochX).

In "Irgendwo anders", einem Stück des slowenischen Ljubljana Puppet Theatre, entflieht ein Mädchen mithilfe von Kreidezeichnungen auf seiner Zauber-Schultafel dem Krieg. "Ich weiß nicht, wie ihnen das gelingt. Aber die Produktion verbindet Figurenanimation mit Live-Videoprojektionen so geschickt, dass die Grenzen zwischen realen und imaginierten Bildern verschwinden, es ist eine der Produktionen für Kinder, die man auch als Erwachsener unbedingt sehen sollte", sagt Erbelding (21.10., 10.30, 15 Uhr, Pasinger Fabrik).

Schwerpunkt Shoa

Manches ist so unerträglich, dass sich die Darstellung des Grauens nur mithilfe von Puppen überhaupt aushalten lässt. So schildert das Stück "Kamp" der niederländischen Kompagnie Hotel Modern mit 3000 winzigen Figuren den monströsen Alltag in dem NS-Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. "Für mich eine der besten Bühnenproduktionen, die sich mit dem Thema auseinandersetzt", sagt Erbelding (3./4.11., 20 Uhr, Kammerspiele). Friedrich Zawrel, Sohn eines Alkoholikers, entging in der "Kinderfachabteilung Spiegelgrund" des Nationalsozialistischen Regimes nur knapp der Euthanasie. Der Anstaltsarzt stufte Zawrel in einem Gutachten als "erbbiologisch und sozial minderwertig" ein, doch Zawrel konnte fliehen und überlebte. Er war nach dem Krieg einer der wichtigsten Zeitzeugen bei der Aufarbeitung der Euthanasie-Verbrechen in Wien.

Auf der Basis von sehr persönlichen Gesprächen mit Zawrel entstand Nikolaus Habjans Stück "F. Zawrel - erbbiologisch und sozial minderwertig". Das eindringliche Spiel von Nikolaus Habjan und seinen Klappmaulpuppen schafft Verfremdung und Identifikation zugleich. Die Inszenierung erhielt 2012 mit dem Nestroy-Preis in der Kategorie "Beste Off-Produktion" den wichtigsten Theaterpreis Österreichs und ist seit zehn Jahren auf verschiedenen Bühnen zu sehen (19./20.10., Bosco Gauting).

Biografische Geschichte

Eine biografische Geschichte mit doppelter Staatsangehörigkeit erzählt "Mama Europa" von der Compagnie Handmaids im Stadtmuseum (18.10., 20 Uhr, 19.10., 10 Uhr). 2017 verlässt Sabine Mittelhammer ihr Land, aus Liebe zu einem Franzosen. 1974 ging ihre Mutter Geneviève den gleichen Weg, allerdings in umgekehrter Richtung, fort aus Frankreich, für einen Deutschen. Ein "wunder Punkt" in ihrer aller Geschichte ist der Zweite Weltkrieg, der beide Länder zerriss. In "Vida" gelingt dem Spanier Javier Aranda das Kunststück, nur mit den Händen und Gegenständen aus einem Nähkorb die Lebensgeschichte einer Mutter zu erzählen: "Von der Geburt über die erste Verliebtheit bis zu ihrem Tod - beinahe etwas kitschig, dabei aber wunderschön, ich hatte beim Zuschauern immer ein Tränchen im Auge", gibt Erbelding zu (25. 10., 18/20.30 Uhr, Instituto Cervantes).

Grenzen austanzen

"Ich choreografiere jetzt Dinge", hatte der belgische Choreograf Ugo Dehaes der Schauburg-Intendantin erklärt, als sie ihn fragte, woran er während der Pandemie arbeite. Denn mit schwitzenden Tänzern durfte er ja nicht arbeiten. Das Ergebnis seiner Arbeit ist die interaktive Maschinen-Performance "Simple machines", in der Dehaes kleine Robotertänzer der Zukunft trainiert und das Publikum auffordert, mitzumachen (16.10., 14/16/18 Uhr, 17.10., 9.30/11/14 Uhr, Schauburg). Ebenfalls in Bewegung gerät das Publikum bei der Aufführung Jetse Batelaans vom Theater Artemis aus den Niederlanden: "Tanz ist tolle rhythmische Bewegung zu Musik", behauptet das Stück, in dem Eltern auf der Suche nach ihren Kindern in einen Club geraten - für Peinlichkeit ist gesorgt (7.11., 11/19 Uhr, 8.11., 10 Uhr). 2019 erhielt Batelaan den Silbernen Löwen der Biennale in Venedig und 2020 den Preis des Internationalen Theaterinstituts (ITI).

Internationales Figurentheaterfestival "Wunder.", 14. Okt. bis 8. Nov., diverse Orte, Programm: www.wunderpunktfestival.de

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