Süddeutsche Zeitung

Historie:Der Landkreis stellt sich der Vergangenheit

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73 Jahre nach Kriegsende soll ein Historiker die Geschichte des Landratsamtes und seiner Vorgängerbehörde erforschen

Von Martin Mühlfenzl, München

Der Mariahilfplatz ist nicht nur zur Auer Dult einer der schönsten und hellsten Plätze Münchens. Eingerahmt von der Mariahilfkirche, dem Kloster der Armen Schulschwestern und dem Münchner Landratsamt. Doch dieser Platz hat auch dunkle Tage erlebt. Die Zerstörung der Kirche bis auf die Außenmauern durch Luftangriffe am 25. April 1944 etwa - ein für jedermann sichtbares Zeichen der Schrecken des Krieges. Was in den Jahren 1933 bis 1945 hinter den Mauern des Landratsamtes geschah, das bis zur Gleichschaltung durch die Nationalsozialisten am 1. Januar 1939 Bezirksamt hieß, ist hingegen weitgehend unbekannt. Das will der Kreistag nun ändern und hat eine Studie in Auftrag gegeben, um die Geschichte des Landkreises München in der Zeit des Nationalsozialismus zu erforschen.

SPD-Kreisrätin Annette Ganssmüller-Maluche hatte bereits im vergangenen Jahr einen entsprechenden Antrag zur Erforschung der Geschichte der NS-Zeit im Landkreis eingebracht und begründete diesen Vorstoß am Montag im Kreistag noch einmal mit sehr persönlichen Worten. "Ich bin die Enkelin einer Jüdin, die zum Ende der Kriegszeit noch nach Theresienstadt kam, und die Tochter einer begeisterten Anhängerin der Nationalsozialisten", sagte Ganssmüller-Maluche. "Schon deshalb liegt mir sehr viel daran, dass diese unheilige Zeit aufgearbeitet wird." 78 Jahre nach Kriegsende sei es an der Zeit, dass sich auch der Landkreis München seiner Vergangenheit stelle.

Dass dies erst so spät geschieht, sei nicht ungewöhnlich, sagt Professor Ferdinand Kramer, Inhaber des Lehrstuhls für Bayerische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität. "Bisher waren es vor allem Ministerien und große Behörden, die ihre NS-Vergangenheit aufgearbeitet haben", sagte Kramer im Kreistag. Jetzt komme die Thematik vielerorts auch auf Kreisebene an. Am Institut für Bayerische Geschichte wird der Forschungsauftrag in den kommenden drei Jahren von Kramers ehemaligem wissenschaftlichen Mitarbeiter Daniel Rittenauer betreut und bearbeitet.

Rittenauer erhält hierfür eine halbe Stelle, die der Landkreis finanziert. Ziel sei es, die Behörde hinsichtlich ihrer Aufgaben- und Tätigkeitsfelder sowie der Stellung innerhalb des NS-Staats ebenso zu untersuchen wie die politischen Organe und die dahinter stehenden Personen. In einem zweiten Schritt soll es darum gehen, die Nachkriegszeit sowie mögliche Zäsuren oder Kontinuitäten zu beleuchten, NS-Belastungen von Mitarbeitern zu erforschen und die demokratische Erneuerung darzustellen, sagte Kramer. In einem dritten Schritt soll Rittenauer "in die Kommunen hineinforschen", sagte Kramer.

Dass der Landkreis dieses dunkle Kapitel seiner Geschichte untersuchen lassen will, sei "sinnvoll und an der Zeit", sagt der Neubiberger Historiker Hermann Rumschöttel - und eine große Herausforderung. "Die Aktenüberlieferung des Bezirksamtes ist schlecht. Viel ist bei Kriegsende verloren gegangen oder zerstört worden", erläutert Rumschöttel. Angesichts "der gegenwärtigen politischen Entwicklung" gewinne die "politische Bildung immer mehr an Bedeutung", sagt der Historiker. "Wenn man sieht, dass 20 Prozent der Deutschen die Vergangenheit nicht ernst nehmen, ist das für einen Historiker zu viel", mahnt Rumschöttel.

Bisher sind die Jahre 1933 bis 1945 meist nur in Teilbereichen erforscht worden. Das einzige Werk, das den Landkreis in der Zeit des Nationalsozialismus als Gebietskörperschaft beleuchtet, ist die Arbeit "Die vielen Gesichter der Zwangsarbeit: ,Ausländereinsatz' im Landkreis München 1939-1945" der Autorinnen Elsbeth Bösl, Nicole Kramer und Stephanie Linsinger. Das Werk beschäftigt sich mit den Schicksalen von etwa 13 500 Zwangsarbeitern im Landkreis München, die etwa in der damaligen Heeresmunitionsanstalt (Muna) in Hohenbrunn oder in der Außenstelle des Konzentrationslagers Dachau in Ottobrunn zum Dienst gezwungen wurden. Mit dieser KZ-Außenstelle hat sich in den Neunzigerjahren auch der damals angehende Ottobrunner Abiturient Martin Wolf beschäftigt und eine bemerkenswerte Facharbeit über die Schrecken im Lager angefertigt.

Martin Wolf, der im Jahr 2003 starb, hat für seine Facharbeit unter anderem mit dem Zeitzeugen Haakon Sörbye gesprochen. Der Norweger war Zwangsarbeiter in der KZ-Außenstelle, kam 1944 nach Ottobrunn und blieb dort bis zur Evakuierung des Lagers wenige Tage vor der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht. Als vorbildlich gilt auch die Aufarbeitung der Euthanasie-Morde in der damaligen Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar durch den Bezirk Oberbayern, die noch weiter läuft.

Die Zeit der Zeitzeugen aber neigt sich unweigerlich dem Ende zu. Daniel Rittenauer wird sich für seinen Forschungsauftrag deshalb vermutlich vor allem tief in Archive eingraben müssen. In das bayerische Hauptstaatsarchiv etwa; er wird aber auch Zeit im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde verbringen müssen, denn dort lagern sowohl die "Zentralkartei" als auch die "Gaukartei", in denen die NSDAP-Mitglieder erfasst waren. Wer tief gräbt, wird aber auch eher fündig.

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SZ vom 26.09.2018
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