Süddeutsche Zeitung

Friedhof:Wenn der Grabstein als Räuberleiter dient

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Mancher Friedhof wird nicht nur als Ruhestätte, sondern auch als Laufstrecke für die Lebenden genutzt. Doch wehe, man verpasst die Schließung der Tore.

Kolumne von Laura Kaufmann

Friedhöfe sind nicht nur letzte Ruhestätten, manche sind für die Lebenden zugleich auch Naherholungsgebiet. So drehen beispielsweise Jogger auf dem Alten Nordfriedhof wie auf dem Alten Südfriedhof gerne ihre Runden. Das Zusammenspiel von Leben und Tod an diesen besonderen Orten pietätvoll zu gestalten, ist bisweilen eine Herausforderung. Gerade erst hat in der Maxvorstadt der Ordnungsdienst für Diskussionen gesorgt, der einer Kindergartengruppe das Spielen untersagen wollte, weil die Zwerge auf Grabsteinen rumgekraxelt seien.

Ein gewisser Anstand versteht sich natürlich von selbst. So ist ein Friedhof gewiss kein Ort, um abends eine Freiluftparty zu veranstalten. Für Leute mit fehlendem Feingefühl verhindern so etwas alleine schon die Öffnungszeiten - zumindest auf dem Alten Südfriedhof. Nur wann genau Schluss ist, das ist nicht für jeden richtig ersichtlich. Zumindest nicht für die Frau, die nach einem stressigen Tag die Joggingschuhe anzog und ihre weiße Sportjacke überstreifte, um eine Runde Laufen zu gehen. Problemlos gelangte sie auf ihre gewohnte Route, aber als sie sich schließlich ausgepowert hatte, fand sie die Tore verschlossen vor.

Das ist nicht nur ärgerlich, sondern auch ein Problem, denn die Mauern des Friedhofs sind hoch, und die Frau ist eine kleine Frau. Aber sie wusste sich zu helfen, und so kraxelte sie über einen Grabstein - wenn das eine Aufsicht gesehen hätte - auf die Mauer. Weil die zu hoch war, um einfach herunterzuspringen, wedelte sie wild mit den Armen und rief um Hilfe, um zwei junge Männer auf sich aufmerksam zu machen. Mittlerweile war es dämmrig geworden, ihre weiße Jacke leuchtete. Langsam lösten sich die Männer aus ihrer Erstarrung und näherten sich vorsichtig. Und als sie verstanden hatten, dass kein Gespenst sie zu sich rief, sondern eine quicklebendige Dame, halfen sie ihr schließlich von der Mauer herunter.

Ein Grabstein ist nun wirklich kein Klettergerüst. Aber es gibt Notlagen, da bleibt zu hoffen, der Verstorbene möge verzeihen, mit seinem Grabstein kurz als Räuberleiter gedient zu haben.

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Quelle:
SZ vom 15.05.2019
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