Süddeutsche Zeitung

Freisinger Selbsthilfegruppe unterstützt AD(H)S-Betroffene:Wie ein Trichter im Kopf

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Elke Fannasch, Mitbegründerin von "Zippel Zappel", erklärt, was es für Familien bedeutet, mit einem AD(H)S-Kind zu leben - und welche Strategien im Umgang mit dieser psychischen Erkrankung helfen.

Interview von Gudrun Regelein, Freising

Sie heißen Zappelphilipp oder Hans Guck-in-die-Luft: Kinder, die nicht still sitzen können, die wenig Durchhaltevermögen haben, die vergesslich oder ständig abgelenkt sind. Kinder, die eine Aufmerksamkeits-Defizit-(Hyperaktivitäts)Störung, kurz AD(H)S, haben. "Der Leidensdruck für alle Familienmitglieder ist sehr groß", sagt Elke Fannasch. 2005 gründete sie zusammen mit Angelika Wagner die Selbsthilfegruppe "Zippel Zappel" für Eltern mit betroffenen Kindern im Landkreis.

SZ: Frau Fannasch, weshalb haben Sie vor knapp 15 Jahren "Zippel Zappel" gegründet?

Elke Fannasch: Weil es damals im Landkreis keine Selbsthilfegruppe oder andere Angebote gab und ich Mutter eines betroffenen Kindes bin. Der Austausch, das gemeinsame Finden von Lösungen und Strategien erschien mir einfach wichtig.

Was passiert bei den Treffen der Selbsthilfegruppe?

Wir treffen uns alle zwei Monate, es sind meistens zwischen acht und zehn Teilnehmer, von denen viele schon seit Langem kommen. Zunächst stellt sich jeder in einer Blitzlichtrunde kurz vor, dabei ergibt sich meist das Thema, das an diesem Abend intensiv besprochen wird. Wir tauschen Informationen aus, geben uns gegenseitig Tipps und Ratschläge.

Bedeutet die Diagnose AD(H)S für die Familie auch eine Erleichterung?

Endlich zu wissen, warum sich das Kind anders verhält, entlastet tatsächlich viele Familien - aber nicht alle. Endlich hat die Störung einen Namen, das ist hilfreich. Die betroffenen Familien können sich jetzt Unterstützung suchen. Allerdings ist AD(H)S eine "schlechte" Krankheit, das heißt, sie ist negativ belegt. Viele Menschen glauben vermeintlich, viel zu wissen, haben aber eigentlich keine Ahnung.

Das heißt?

Viele Menschen gehen noch immer davon aus, es liege an einer falschen Erziehung, dass sich das Kind nicht regelgerecht verhält. Viele wollen nicht akzeptieren, dass es eine Störung, eine psychische Erkrankung ist. Viele haben auch die unzutreffende Meinung, dass das Kind mit Tabletten behandelt wird, um es ruhig zu stellen.

Sie meinen damit Ritalin?

Ja, eigentlich ist das ein Aufputschmittel - zumindest für diejenigen, die nicht von AD(H)S betroffen sind. Deshalb fällt es unter das Betäubungsmittelgesetz. Ein AD(H)S-Kind dagegen wird durch Ritalin deutlich strukturierter. Die Impulskontrolle kann dann besser gesteuert werden. Das berühmte Zappelphilipp-Syndrom, die Hyperaktivität, wird abgemildert.

Was hat sich in der Behandlung der Kinder in den vergangenen Jahren verändert?

Inzwischen gibt es glücklicherweise eine gut begleitete Therapie. Ein multimodales Konzept hilft dem Kind an dieser Stelle am besten, das heißt, dass verschiedene Therapien - Ergotherapie, Verhaltenstherapie, eine eventuelle medikamentöse Therapie - Hand in Hand laufen. Dazu kommt die intensive Begleitung der Eltern. AD(H)S nimmt in Familien viel Raum ein, die Eltern werden über Gebühr belastet.

Steigen die Zahlen der Betroffenen?

Statistisch gesehen gibt es in jeder Klasse zwei Kinder - allerdings beider Formen, also ADHS und ADS. Die Zahl der diagnostizierten Kinder ist gestiegen. Aber das hat verschiedene Gründe: Das Thema ist präsenter, es wird mehr wahrgenommen. Außerdem gibt es mittlerweile mehr Kinder- und Jugendpsychiater, die diese Krankheit diagnostizieren können. Und der Lebenswandel der heutigen Zeit spielt dabei sicher auch eine Rolle.

Es ist eine psychische Erkrankung: Wie wird sie von dem Kind erlebt?

Es fällt dem Kind natürlich auf, dass es anders ist. Sie müssen sich das so vorstellen, dass diese Kinder einen Trichter auf dem Kopf haben, durch den alle Eindrücke ungefiltert auf sie einprasseln. Die Filterfunktion, die andere Menschen haben, ist ausgeschaltet. Es entsteht ein Chaos im Kopf, das diese Kinder selber nicht bewältigen können. Dadurch können sie sich nicht mehr fokussieren.

Wie kann die Familie - Eltern und Geschwister - helfen?

Sehr hilfreich ist es, einen strukturierten Tag anzubieten mit festen Ritualen und Abläufen. Nur wenige Veränderungen und diese langfristig und angekündigt.

Ist AD(H)S heilbar?

Man kann lernen, mit den Problemen umzugehen, Strategien zu entwickeln. Die Chance, dass die Erkrankung komplett verschwindet, ist nur gering. AD(H)S-Erkrankte können aber als Erwachsene - wenn sie die richtige berufliche Schiene finden - sehr gut ihr Chaos regieren und sich auf ihre Aufgabe hyperfokussieren.

AD(H)S-Kinder sind besondere Kinder?

Sie haben tatsächlich besondere Fähigkeiten: Sie sind kreativ, sehr gerecht, lustig und auch sportlich. Es sind im positiven Sinne aktive Kinder, die unheimlich viel können.

Welchen Umgang mit AD(H)S würden Sie sich von der Gesellschaft wünschen?

Einen offeneren. Mehr Verständnis und mehr Geduld im Umgang mit der Erkrankung. Und ich würde mir wünschen, dass nicht jede betroffene Familie gleich abgestempelt wird.

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Quelle:
SZ vom 02.12.2019
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