Süddeutsche Zeitung

Figuren mit Bezug zur Freisinger Geschichte:Zerklüftetes Zeugnis der Menschheit

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In seiner Ausstellung "Das Narrenschiff" im Schafhof hinterfragt Bildhauer Andreas Kuhnlein den Zeitgeist. Die über 100-teilige Installation illustriert den menschlichen Dualismus zwischen Empathie und Brutalität.

Von Corinna Bail, Freising

Der Großteil des Schiffs ist bereits untergegangen, die Passagiere und allerlei Getier sind in den brandroten Meereswogen verloren. Ein Vater versucht noch, sein Kind aus dem tödlichen Strudel zu ziehen, doch am vermeintlich rettenden Ufer warten bereits die Spuren der menschlichen Unvernunft. Unverhohlen illustriert Andreas Kuhnlein mit rund 143 Werkstücken in seiner Ausstellung "Das Narrenschiff" im Tonnengewölbe des Schafhofs die Dialektik des menschlichen Daseins: Zwischen Brutalität und empathischer Zerbrechlichkeit thematisiert der freischaffende Künstler mit seinen expressiven Figuren die Vergänglichkeit des Menschen. Für die Ausstellung im Künstlerhaus des Bezirks Oberbayern, die am vergangenen Freitag eröffnet wurde, schuf Kuhnlein zusätzliche Figuren mit Bezug zur Freisinger Geschichte.

Um die für Kuhnlein typische Rohheit der Oberflächen zu erlangen, bearbeitet der Kunstschaffende das meist abgestorbene oder vom Sturm gefällte Hartholz mit der Kettensäge. "Natürlich muss ich mich dann auf das Wesentliche konzentrieren. Aber die Haltung eines Menschen drückt auch schon Vieles aus", erklärt Kuhnlein im Gespräch. Im Gegensatz zu üblichen Bildhauer-Werkzeugen wie Schnitzbeil und Klüpfel erlaube ihm die Motorsäge außerdem eine relativ schnelle Übertragung seiner momentanen Gefühlslage auf seine Werke.

Der Mensch sei zu allem fähig, sagt Kuhnlein

Diesen von Impulsivität geprägten Stil erarbeitete sich der in Unterwössen im Chiemgau geborene Andreas Kuhnlein in einer langjährigen Findungsphase. Die handwerklichen Fähigkeiten erlernte er in seiner Ausbildung als Schreiner. Die thematische Stilrichtung seiner Kunst prägte jedoch vor allem seine Zeit beim Bundesgrenzschutz in den 1970er Jahren, erzählt Kuhnlein. Besonders die damaligen Einsätze im durch die innerdeutsche Grenze zweigeteilten Mödlareuth und bei der Großdemonstration gegen das in Brockdorf geplante Atomkraftwerk hätten ihn erkennen lassen, dass der Mensch zu allem fähig ist. Die erlebte Gewalt und fehlende Sympathie in dieser extremen Zeit seien der Auslöser dafür gewesen, dass er zur Kunst gekommen ist, erinnert sich Kuhnlein. Hier könne er das Erlebte verarbeiten und andere zum Nachdenken anregen. Nach neun Jahren beim Bundesgrenzschutz, der Übernahme des familiären Landwirtschaftsbetriebs und ersten Deckenschnitzereien als Schreiner, beschloss Andreas Kuhnlein schließlich den Schritt in die Selbstständigkeit als Holzbildhauer. Seitdem richtete der heute 67-Jährige bereits zahlreiche Ausstellungen im In- und Ausland aus.

Seit Freitag ist nun sein "Narrenschiff", angelehnt an Sebastian Brants gleichnamige Moralsatire von 1494, im Tonnengewölbe des Schafhofs zu betrachten.

Zur Eröffnung der Ausstellung hatten sich rund 100 Besucher im Außenbereich des Künstlerhauses in Freising eingefunden, darunter auch Josef Mederer (CSU), Präsident des Bezirks Oberbayern, Norbert Göttler als Fachberater in Sachen Heimatpflege in Oberbayern und der Künstler Andreas Kuhnlein selbst. Musikalisch begrüßten Hans Well und die Wellbappn in bayerischer Mundart das Publikum vor Ort und vor den Bildschirmen, denn die Veranstaltung wurde per Live-Stream von etwa 170 Kunstinteressierten im Internet verfolgt. Ein geeignetes Format, um die Corona-bedingten Einschränkungen auszubalancieren, wie Eike Berg, Leiter des Künstlerhauses, empfindet.

Auch Bezirkstagspräsident Josef Mederer hob in seiner Begrüßungsrede am Freitagabend den inklusiven Charakter dieser digitalen Lösung des kulturellen Stillstands hervor. "Wir wollen Menschen teilhaben lassen. Egal, was los ist", verdeutlichte Mederer sein Anliegen. Dennoch sind sich Eike Berg und der ausstellende Künstler Andreas Kuhnlein einig: Es ist trotz allem schöner, Kunst vor Ort und hautnah zu erleben.

Andreas Kuhnlein: "Das Narrenschiff"; Europäisches Künstlerhaus Oberbayern, 3. Oktober - 29. November 2020, Eintritt frei; weitere Informationen: schafhof-kuenstlerhaus.de

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