Süddeutsche Zeitung

Autofreie Sonntage 1973:Slalomfahrt auf der Landstraße

Lesezeit: 3 min

Nur wer eine Sondergenehmigung hatte, durfte an den autofreien Sonntagen im Jahr 1973 seinen Wagen benutzen. Karl-Heinz Zenker erinnert sich an eine Fahrt von Erding nach Freising.

Von Peter Becker, Hallbergmoos

"Am liebsten hätten mich die Männer aus dem Auto gezogen." Karl-Heinz Zenker, Heimatforscher aus Hallbergmoos, erinnert sich noch gut an den Sonntag vor fünfzig Jahren. Er hatte im Erdinger Fliegerhorst Wachdienst gehabt und war auf dem Heimweg nach Freising. Auf der Landstraße zwischen Niederding und Schwaig musste er Slalom um die vielen Spaziergängerinnen und Spaziergänger fahren, manche waren sogar mit Kinderwagen unterwegs. Der Grund für den Zorn der Passanten: Die Bundesregierung hatte wegen der Ölkrise von Ende November bis zum dritten Advent ein Fahrverbot an Sonntagen verhängt. Gegen dieses hatte Zenker in den Augen der Spaziergänger verstoßen.

Am 25. November 1973 war zum ersten Mal das Sonntagsfahrverbot in Kraft getreten. Heute kaum mehr vorstellbar: Die Bürgerinnen und Bürger reagierten überwiegend gelassen, nutzten Straßen und Autobahnen als Spazierrouten. In Zeiten der sozialen Medien wäre wohl ein gewaltiger Shitstorm übers Land gezogen. Gleichwohl war es im Vorfeld zu einzelnen Protesten nach dem Motto "Freie Fahrt für freie Bürger" gekommen. Der ADAC hatte Plaketten verteilt, mit denen aufgebrachte Autofahrer und -fahrerinnen protestieren konnten. Das Fahrverbot betraf die Sonntage vom 25. November bis zum 16. Dezember. Gleichzeitig galt ein Tempolimit von 100 Kilometern pro Stunde auf Autobahnen und 80 auf Landstraßen.

Hintergrund ist, dass die von arabischen Staaten dominierte Organization of the Petroleum Exporting Countries (OPEC) ein Ölembargo gegen die USA und ihre Verbündeten verhängt hatte. Syrien und Ägypten hatten Israel im Oktober 1973 militärisch im Jom-Kippur-Krieg angegriffen. Das Ölembargo sollte die USA und ihre Verbündeten zwingen, ihre israelfreundliche Haltung aufzugeben. Die Erdöl exportierenden Länder erhöhten schlagartig den Rohölpreis von drei auf zwölf Dollar pro Barrel.

Für Berufstätige, deren Arbeitsbeginn oder Arbeitsende auf einen dieser Sonntage fiel und die nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu ihrer Arbeitsstelle gelangen konnten, habe es die Möglichkeit gegeben, mit einer Bestätigung des Arbeitgebers doch das Auto zu benutzen. Davon machte Zenker Gebrauch.

Für den Fall, dass er von der Polizei kontrolliert worden wäre, hatte er eine "Ausnahmegenehmigung zur Benutzung eines PKW an Sonn- und Feiertagen bei sich. Darin stand, dass er als Offizier vom Wachdienst berechtigt sei, von seiner Dienststelle am Erdinger Fliegerhorst zu seinem Wohnort nach Freising zu fahren. "Diese Ausnahmegenehmigung gilt nur für die Fahrt von der Wohnung zur Dienststelle und zurück", hieß es.

Er erinnere sich noch gut an diese Fahrt, sagt Zenker, besonders an die bösen Blicke, mit denen ihn die Spaziergänger und Spaziergängerinnen auf der Landstraße bedachten. Von der Polizei wurde er auf der 21 Kilometer langen Fahrt nicht angehalten. "Ich konnte aber auch nicht, wie sonst üblich, meine spätere Frau in Hallbergmoos besuchen", sagt Zenker.

Als "typisch Deutsch" ist ihm ein Vorfall in Erinnerung geblieben. Ein Hallbergmooser hatte seine hochschwangere Frau mit dem Auto ins Freisinger Krankenhaus gefahren. Am ehemaligen Bahnposten 15, dort wo heute die Fußgängerunterführung die Stadt mit Lerchenfeld verbindet, wurde der Mann von der Polizei kontrolliert. Er hatte natürliche keine Ausnahmegenehmigung bei sich. Ein Blick in das Auto habe eigentlich genügt, um zu sehen, in was für einem Zustand sich die Frau befand, ärgert sich Zenker noch heute. Doch alles musste seine Ordnung haben. Dem Mann wurde auferlegt, sich im Freisinger Krankenhaus eine Bestätigung ausstellen zu lassen, die er dann bei der Polizei vorzulegen hatte.

Das Gefühl, weit und breit der einzige Mensch auf der Straße zu sein, hatte Zenker zuletzt im März 2020. Er war wegen einer Lieferfahrt auf der Autobahn 99 in Richtung Süden unterwegs. Über viele Kilometer sei kein anderes Fahrzeug zu sehen gewesen, erinnert er sich.

Die Bevölkerung wird sich zum ersten Mal von der Abhängigkeit von Öl bewusst

Ob autofreie Sonntage wesentlich zum Energiesparen beitragen würden, ist umstritten. Es war eher Symbolpolitik. Immerhin hat sich die Bevölkerung zum ersten Mal Gedanken über das Energiesparen, Nachhaltigkeit und eine mögliche Abkehr vom Öl gemacht. Dass Energie ein kostbares Gut ist, sei eine Erkenntnis der Siebzigerjahre, sagte der Historiker Rüdiger Graf vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam dem Spiegel.

Dass ein Sonntagsfahrverbot bei unserer eng vernetzten Wirtschaft und dem hohen Anteil an Arbeitnehmern im Schichtdienst durch die vielen notwendigen Ausnahmegenehmigungen wenig zum Einsparen von Erdöl beitragen würde, das ist sicher, gibt Zenker zu. Ein generelles Tempolimit auf Autobahnen könnte aber laut Umweltministerium den Ausstoß von Treibhausgas erheblich verringern. Doch die mächtige Lobby der Autoindustrie wisse das sicher noch länger zu verhindern, kritisiert Zenker.

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