Süddeutsche Zeitung

Diözesanmuseum Freising:Die Engel sind mitten unter uns

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Die belgische Künstlerin Berlinde De Bruyckere thematisiert in einer Sonderausstellung die Verletzlichkeit von Mensch und Natur. Gleichzeitig vermittelt sie, in der Tradition der christlichen Heilsgeschichte, Hoffnung und Werte wie Mitgefühl.

Von Petra Schnirch, Freising

Es ist kein strahlender, selbstsicherer Engel, der die Besucherinnen und Besucher des Diözesanmuseums im Lichthof empfängt. Vermutlich gerade deshalb berührt der "Arcangelo" von Berlinde De Bruyckere viele so stark. Hoch oben, ein Tuch über dem Körper, den Kopf darunter nach vorne geneigt, alles Grau in Grau, eine von patiniertem Blei ummantelte Bronzeskulptur. Zeiten wie diese mit Pandemie und Krieg setzen nicht nur den Menschen zu, sie bringen selbst Engel ins Wanken.

Dieses Thema zieht sich auch durch andere Arbeiten der belgischen Künstlerin, die von Sonntag an in der Ausstellung "City of Refuge II" im Erdgeschoss des Freisinger Diözesanmuseums zu sehen sind. Im nächsten Raum, dem Münchner Saal, hat die Last, die er zu tragen hat, den Engel bereits zu Boden gedrückt. Die zerbrechliche Gestalt liegt auf einem mächtigen Sockel aus alten Baumaterialien, der an einen Altar erinnert, erschöpft, fast ganz unter einer Decke vergraben, nur die Füße ragen heraus.

Die Figur des "liegenden Arcangelo" hat Berlinde De Bruyckere eigens für die Ausstellung in Freising geschaffen, sie steht im Dialog mit dem stehenden Erzengel. Frühere Bilder und Zeichnungen belegen, dass die Künstlerin sich schon lange mit den Themen Engel, Flügel, Freiheit, aber auch Enge und Eingeschlossen-sein beschäftigt.

Petra Giloy-Hirtz, Kuratorin der Ausstellung, schilderte bei einem Presserundgang, dass De Bruyckere die Figur des Arcangelo während der Pandemie, der Zeit der Trostlosigkeit, entwickelt habe. Vermutlich sind die Reaktionen darauf so stark, weil sie gleichermaßen berührt wie verstört. Der Engel ist nicht mehr der göttliche Bote, auch er gerät, wie menschlich!, ins Straucheln. Gleichzeitig stimmen die wunderbar ästhetischen Skulpturen nicht hoffnungslos. Sie zeigen, "es gibt Engel unter uns", sagte Giloy-Hirtz - in der Corona-Zeit waren das die Pflegekräfte, die bis zur Erschöpfung um ihre Patienten kämpften. Auch die Kunst könne trösten und stützen. Das deutet der Titel der Ausstellung an: "City of Refuge", Stadt der Zuflucht. Der Begriff stammt aus einem Lied von Nick Cave.

Die Zerbrechlichkeit, die Verwundbarkeit von Mensch und Natur thematisiert die Künstlerin, Jahrgang 1964, in all ihren Werken in der Ausstellung und es fließen immer wieder auch sehr persönliche Erfahrungen ein. Eine der beiden Betten-Installationen im Foyer hat De Bruyckere "Walburga 16 November '18" genannt, nach ihrer verstorbenen Mutter, wie sie erzählte. Zum Aufbau der Werke ist sie selbst nach Freising gekommen. Mit ruhiger Stimme und ausführlichen Erklärungen führt sie durch die Räume.

Im Foyer erinnern die mit Wachs überzogenen dünnen Äste auf einem Bett mit Schichten verschlissener Decken an Gebeine, an Gliedmaßen, an Siechtum und Verletzungen. Die Decken bieten einerseits Schutz und Geborgenheit, andererseits haben auch sie schon bessere Tage gesehen und sind stark verschlissen. Die rötliche Farbe auf dem Holz wirkt wie Blut. Das Motiv passt auch zur Historie des Museums. Das Gebäude war von 1939 bis 1945 als Lazarett für Kriegsgefangene genutzt worden, nach Kriegsende richtete die US-Armee dort bis September 1945 ein Hospital für befreite KZ-Häftlinge ein, viele starben, die Torturen, die sie zuvor erlitten hatten, waren zu groß gewesen.

"City of Refuge II" ist bereits die dritte Sonderausstellung seit der Wiedereröffnung des Diözesanmuseums Anfang Oktober 2022. Die Arbeiten von Berlinde De Bruyckere sind bis Sonntag, 17. September, zu sehen. Auch die Ausstellung "Verdammte Lust. Kirche, Körper, Kunst" ist noch bis zum 29. Mai geöffnet. Der Schwerpunkt des Museums zur christlichen Kunst- und Kulturgeschichte liege zwar auf historischen Werken, zeitgenössische Kunst sei aber als integraler Bestandteil aufgenommen worden, sagte Museumsdirektor Christoph Kürzeder. Denn es sind auch heute häufig Fragen existenzieller Art, auf die Kunstschaffende Antworten suchen. Das Konzept geht offenkundig auf: Die Lichtinstallation von James Turrell in der Hauskapelle des ehemaligen Knabenseminars hat sich zum Besuchermagneten entwickelt. Draußen, neben der Museumsterrasse, entsteht gerade eine kleine Kapelle der US-amerikanischen Künstlerin Kiki Smith.

In den Arbeiten von Berlinde De Bruyckere fasziniert ihr Umgang mit den unterschiedlichsten Materialien. Die Decken für die beiden "Betten"-Installationen übergab sie zuvor den Kräften der Natur. Sie verloren an Farbe, verschmutzten, es entstanden Risse, auch Schimmel bildete sich, wie die Künstlerin erzählte. Vor einer Verwendung mussten sie erst einmal gereinigt werden. Wachs, Holz, Tierhaare, Holz, Epoxidharz, Eisen, Blei sind weitere Stoffe, auf die sie häufig zurückgreift. Im kleinen Objekt "Doornenkroon II" - wie ein traditionelles Eingericht unter einem Glassturz - verbindet De Bruyckere Epoxidharz und Elektrokabel so geschickt, dass sie an eine Dornenkrone erinnern, wie sie dem geschundenen "Christus in der Rast", zu sehen in der Dauerausstellung, aufgedrückt wurde. Dessen Leiden stehen für die Leiden der Welt, zugleich ist er ein Hoffnungsträger, bietet Zuflucht im Glauben.

Der Aufbau einer neuen Ausstellung birgt stets Herausforderungen - und bedarf mitunter spektakulärer Lösungen. In der Johanneskirche neben dem Dom sind zwei weitere, überdimensionale Tafeln der Künstlerin aus Gent zu sehen. Da sie nicht per Lastwagen auf den Domberg transportiert werden konnten, wurden sie am Mittwoch mit einem Kran nach oben auf einen Balkon des Kardinal-Döpfner-Hauses gehievt, wie die stellvertretende Museumsleiterin Carmen Roll schilderte. Ein zweiter Kran hob die großen Holzkisten über das Gebäude auf den Domvorplatz. Für die drapierten Textilien auf einer der beiden ließ sich De Bruyckere von Mönchsdarstellungen Francisco de Zurbaráns inspirieren. Den Hintergrund bilden alte Tapeten aus ihrem eigenen Haus, wie sie erzählte.

Bezüge zur religiösen Ikonographie finden sich immer wieder. Die Figur "Pascale" ist von Maria Magdalena inspiriert, Gesicht und nackter Körper schützt sie mit einer Flut von Haaren. In der Textil-Arbeit "Courtyard Tales" sieht De Bruyckere Ähnlichkeiten mit dem Schweißtuch der Veronika. Die Fragen existenzieller Art, die sie sich stelle, hätten sicher auch viele andere Menschen, sagte die Künstlerin.

Carmen Roll fasziniert die "große Tiefe in ihren Arbeiten". Auch das Motiv der zerstörten, ausblutenden, entwurzelten Natur findet sich immer wieder, etwa in "After Cripplewood II". Zugleich haben die Werke von Berlinde De Bruyckere aber eine "positive Energie und sind voller Hoffnung und Vitalität", bilanzierte Kuratorin Giloy-Hirtz. "Individuelle Emotionen und Erfahrungen verweisen auf gesellschaftliche und politische Zustände wie menschliches Leid, Gewalt und Einsamkeit, Vertreibung und Flucht, Zärtlichkeit und Mitgefühl. So vereint sich in einzigartiger Weise die Poesie ihrer Werke mit sozialem Engagement."

Sonderausstellung "City of Refuge II" mit Arbeiten von Berlinde de Bruyckere, Diözesanmuseum Freising, von Sonntag, 30. April, bis Sonntag, 17. September, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr. Am Feiertag, 1. Mai, ist das Museum geöffnet.

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