Süddeutsche Zeitung

Erziehung:Wie Heimkinder ihre Stimme fanden

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In Kinderheimen wirkt die schwarze Pädagogik der NS-Zeit lange weiter: Erst in den Sechzigern setzt ein Umdenken ein.

Von Linus Freymark, München

Anfang 2003 meldet sich eine Frau in der Redaktion des Nachrichtenmagazins Der Spiegel. Die Frau möchte mit dem Journalisten Peter Wensierski sprechen, der nur wenige Wochen zuvor einen Film rezensiert hat, in dem es um das Schicksal ehemaliger Heimkinder in Irland geht. Die Frau erzählt Wensierski nun, dass ihr dasselbe passiert sei - in Deutschland, in der jungen Bundesrepublik der Fünfziger- und Sechszigerjahre.

Wensierski beginnt zu recherchieren, trifft weitere Betroffene. Ein paar Monate später erscheint sein Artikel "Unbarmherzige Schwestern". Im Februar 2006 veröffentlicht er das Buch "Schläge im Namen des Herrn", das die Erlebnisse ehemaliger Heimkinder protokolliert und ihre Stigmatisierung durch die Gesellschaft aufzeigt.

Bis ins neue Jahrtausend hinein schafften es ehemalige Heimkinder in München, Bayern und dem Rest der Republik mit ihrem Schicksal kaum in die öffentliche Wahrnehmung. Eine mögliche Erklärung für das Schweigen könnte nach Ansicht der Soziologen Helga Dill und Florian Straus vom Institut für Praxisforschung und Projektberatung München (IPP) die Rolle des Staates sein.

Denn die Zustände in den Heimen sind ihnen zufolge auch auf die fehlende Kontrolle der Einrichtungen durch das Jugendamt, die Polizei und andere Organe zurückzuführen, kurz gesagt: auf Behördenversagen. Zudem stammt ein Großteil der ehemaligen Heimkinder aus nach damaliger gesellschaftlicher Auffassung "asozialen" Verhältnissen: Oft waren sie unehelich geboren worden, viele stammten aus Beziehungen deutscher Frauen mit Besatzungssoldaten. Und die wiederum galten bei vielen lange als Feinde.

Bis 1961 waren ledige oder alleinerziehende Mütter nicht automatisch sorgeberechtigt. Ihre Kinder bekamen automatisch einen Vormund vom Jugendamt, der aufgrund der niedrigen gesellschaftlichen Stellung der Frauen schnell für eine Unterbringung im Heim sorgte. Erst mit der Novellierung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetz 1961, das in seiner bis dahin aktuellen Fassung noch aus der NS-Zeit stammte, konnten sie überhaupt das Sorgerecht beantragen.

Der neue Gesetzentwurf sah zudem eine stärkere Kontrolle und eine bessere Ausbildung der Beschäftigten vor. Denn bis in die Siebzigerjahre hinein arbeitete in den Heimen Erziehungspersonal ohne pädagogische Ausbildung. Häufig kamen die Erzieher aus den Klöstern, in Bayern waren rund 80 Prozent der Heimträger konfessionell. Oft waren die Nonnen und Mönche mit den Kindern überfordert.

Erst mit der 68er-Bewegung begann langsam ein Umdenken

Viele Heime haben nach 1945 die Strukturen aus der NS-Zeit übernommen. Wie in Politik und Verwaltung häufig auch geschehen, behielten viele Erzieher, Mönche und Nonnen, die bereits vor 1945 in den Heimen gearbeitet hatten, auch danach ihren Job, was zu einer nahtlosen Fortführung der "schwarzen Pädagogik" führte. Erst mit der 68er-Bewegung und einer daraus hervorgegangenen Heimkampagne begann langsam ein Umdenken. Doch nach wie vor war die breite Öffentlichkeit wenig an den Berichten (ehemaliger) Heimkinder interessiert, vielen Betroffenen setzte die fehlende Anerkennung des erlittenen Unrechts schwer zu.

Nach der Veröffentlichung von "Schläge im Namen des Herrn" gingen weitere ehemalige Heimkinder an die Öffentlichkeit. In mehreren Petitionen fordern sie eine Anerkennung des ihnen widerfahrenen Unrechts durch den Bundestag, und sie wollten eine Entschädigung haben. 2009 installierte der Bundestag daraufhin einen "Runden Tisch Heimerziehung", der sich aus Betroffenen, Heimträgern und Vertretern des Staates zusammensetzte.

Das Gremium beschloss die Einrichtung eines Fonds Heimerziehung West: Für jedes Bundesland sollte mit den bereitgestellten 120 Millionen Euro eine Anlauf- und Beratungsstelle eingerichtet werden, zudem wurden Entschädigungszahlungen beschlossen. Eine "Verletzung der Menschenwürde", wie sie die Forscher des IPP München feststellen, erkennt der Runde Tisch Heimerziehung jedoch nicht an, wie viele ehemalige Heimkinder danach kritisierten.

Im Bayerischen Landtag gab es zudem 2012 eine Anhörung ehemaliger Heimkinder, viele Betroffene äußerten damals ihren Unmut über die gesellschaftliche Verdrängung ihres Schicksals. Einige Münchner Behörden untersuchen mittlerweile ihre Rolle in der Geschichte der Kinderheime: Das Stadtjugendamt, das zum Sozialreferat gehört, hat im Buch "Weihnachten war immer sehr schön" die Zustände in den Münchner Heimen untersuchen lassen.

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Quelle:
SZ vom 28.11.2018
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